Die «vielbrüstige» Artemis Ephesia
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zen. Da das originale Kultbild aus Holz
gefertigt war und durch die Verwendung
des oben erwähnten Nardenöles bei der
Pflege dunkel geworden ist, ahmen diese
Nachbildungen die dunkle Farbe des
Originals durch die Verwendung von
schwarzem Stein nach. Keine dieser
Repliken zeigt jedoch auch die «Brüste»
dunkel. Deswegen sind sie als Körper-
teile der Göttin auszuschließen. Ebenso-
wenig vermochten diejenigen Deutungs-
vorschläge zu überzeugen, bei denen man
im Brustbehang andere Fruchtbarkeits-
symbole wie etwa Eier, Datteln, Wein-
trauben oder gar Eicheln zu erkennen
glaubte.
1978 hat der Schweizer Archäologe
Gerard Seiterle eine Deutung vorgelegt,
Abb. 88 1984 kam an der Westecke des Ar-
temisions eine Statuette zutage, die den Griff
eines zweischaligen Kultgerätes bildete. Sie
ähnelt einer bereits von D. G. Hogarth ge-
fundenen Figur und ist wie diese in Zusam-
menhang mit klein- und großplastischen
Kybeledarstellungen zu verstehen, die im
gesamten zentral- und westkleinasiatischen
Raum Verbreitungfanden. Für unsere Figur
sind das lange, mantelartige Gewand, der
Polos (Kopfschmuck in Form einer hohen
Mütze), die Kette mit Anhänger sowie ein
nicht mehr identifizierbares Objekt, welches
sie in den Händen hält, charakteristisch.
Abb. 89 Die Innenseite der Schalen des
Kultgerätes von Abb. 88 ist mit feinen Stegen
unterteilt und konnte damit verschiedene
Spenden aufnehmen. Bereits Hogarth hatte
kleinere Fragmente solcher Schalen gefun-
den, es existierte bislang aber keine Verbin-
dung mit einer Statuette.
Abb. 90 Bernstein in Form eines menschli-
chen Kopfes. lm Profil werden die auffällig
weit vorspringende Nase sowie das kreisrund
eingeritzte Auge sichtbar. Unten findet sich
die Durchbohrung zum Auffädeln (vgl. auch
S. 88).
Abb. 91 Bemsteine verschiedener Form;
es fanden sich kleine Anhänger in Form von
Samen - Dreiecke, Fünfecke, schraubenför-
mige Gebilde, tierkopfähnliche, Ringe -
sowie roh belassene Formen, alle aber zum
Auffädeln durchbohrt.
Abb. 92 Kette aus Bernsteinen, Bergkri-
stall, Glas und glasiertem Ton. Die Bern-
steine sind zu Teil bearbeitet, z. T. Rohlinge;
fast alle Stücke sind zum Auffädeln durch-
bohrt. Aller Wahrscheinlichkeit nach
stammt der Bemstein aus dem Baltikum.
Seine Farben reichen von Rot bis Gelblich,
teilweise ist er durchscheinend, teilweise un-
durchsichtig. Gefunden 1987 im Norden der
Baldachinbasis. Vgl. Abb. 36.
die allen früheren dadurch überlegen ist,
daß sie zum erstenmal formale Überein-
stimmung mit der äußeren Erscheinung
der fraglichen Gebilde herstellt. Seiterle
erklärte die der Göttin umgehängten Beu-
tel als Stierhoden, die bei bestimmten
Festen als Fruchtbarkeitssymbole darge-
bracht und nach einiger Zeit wieder ent-
fernt und vergraben wurden. Er kann für
seine Deutung in Anspruch nehmen, daß
sie zumindest alle anatomischen Unge-
reimtheiten beseitigt, wie eine Rekon-
struktion mit realen Objekten beweist
(s. Frontispiz). Wie aber konnte ein Kir-
chenvater den neuen Christen einreden,
daß es sich um Brüste handelte, wenn
Zeitgenossen diese noch als Stierhoden
kannten? Es gibt aber auch andere
Schwierigkeiten: Denn mit dem Umbin-
den der Hoden allein ist es ja nicht getan,
sondern eine solche Praxis setzt einen
Stierkult voraus, und ein solcher ist
weder für die Vorläuferin der Artemis,
die kleinasiatische Göttermutter, noch
für diese selbst in irgendeiner Überliefe-
rung direkt bezeugt. Aus der Grabung
selbst gibt es außerdem eher geringe
Knochenreste von Rindern, und bei die-
sen handelt es sich meist um Kühe. Und
wieso hat man allein jenen ephemeren
Zustand mit den Hoden als einzige authen-
tische Darstellung im dauerhaften Mar-
mor kopiert?
Wir halten es für das Wahrscheinlich-
ste, daß der Schmuck der Statue mit for-
mal ähnlichen, jüngst im Heiligtum ge-
fundenen Bernsteinen zusammenhängt,
von denen weiter unten noch die Rede
sein wird. Die Bedeutung des Bernstein-
schmuckes als Imitation von Früchten
und damit Fruchtbarkeitssymbolen scheint
im Laufe der Zeit, bedingt durch die Er-
neuerungen des Kultbildes, verlorenge-
gangen zu sein. Man erinnerte sich aber
noch an die Form, und man hat ihr eine
besondere Bedeutung beigemessen. Ge-
rade sie hat - im Gegensatz zum Gürtel
der späteren Artemis Ephesia - eine Um-
deutung erfahren.
Sicher darf man sich das ephesische
Kultbild ähnlich vorstellen wie manche
unserer Marienbilder und -ikonen, die
nicht nur anläßlich bestimmter Feste neu
bekleidet werden, sondern auch von den
Gläubigen mit Votiven - die auch dann
und wann gewechselt werden können -
geradezu überhäuft werden. Die ver-
schiedenen liturgischen Gewänder erklä-
ren die Uneinheitlichkeit der römischen
Kopien bei der Darstellung der Antiqua-
ria. Die unzähligen Nachahmungen bele-
gen überdies die Popularität dieses Kult-
bildes in der Kaiserzeit. Die Ephesia war
weit über ihre Heimat hinaus bekannt,
ihre Bilder fanden sich nicht nur in der
Stadt Ephesos selbst oder im übrigen
Kleinasien, sondern auch in vielen Pro-
vinzen des Römischen Reiches. Auch das
Ende der Statue und des ihr gewidmeten
Kultes ist bekannt: Auf Betreiben des
Bischofs Johannes Chrysostomos wurde
sie im Jahr 401 n. Chr. ihres abnehm-
baren Schmuckes beraubt und wahr-
scheinlich auch zerstört.
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zen. Da das originale Kultbild aus Holz
gefertigt war und durch die Verwendung
des oben erwähnten Nardenöles bei der
Pflege dunkel geworden ist, ahmen diese
Nachbildungen die dunkle Farbe des
Originals durch die Verwendung von
schwarzem Stein nach. Keine dieser
Repliken zeigt jedoch auch die «Brüste»
dunkel. Deswegen sind sie als Körper-
teile der Göttin auszuschließen. Ebenso-
wenig vermochten diejenigen Deutungs-
vorschläge zu überzeugen, bei denen man
im Brustbehang andere Fruchtbarkeits-
symbole wie etwa Eier, Datteln, Wein-
trauben oder gar Eicheln zu erkennen
glaubte.
1978 hat der Schweizer Archäologe
Gerard Seiterle eine Deutung vorgelegt,
Abb. 88 1984 kam an der Westecke des Ar-
temisions eine Statuette zutage, die den Griff
eines zweischaligen Kultgerätes bildete. Sie
ähnelt einer bereits von D. G. Hogarth ge-
fundenen Figur und ist wie diese in Zusam-
menhang mit klein- und großplastischen
Kybeledarstellungen zu verstehen, die im
gesamten zentral- und westkleinasiatischen
Raum Verbreitungfanden. Für unsere Figur
sind das lange, mantelartige Gewand, der
Polos (Kopfschmuck in Form einer hohen
Mütze), die Kette mit Anhänger sowie ein
nicht mehr identifizierbares Objekt, welches
sie in den Händen hält, charakteristisch.
Abb. 89 Die Innenseite der Schalen des
Kultgerätes von Abb. 88 ist mit feinen Stegen
unterteilt und konnte damit verschiedene
Spenden aufnehmen. Bereits Hogarth hatte
kleinere Fragmente solcher Schalen gefun-
den, es existierte bislang aber keine Verbin-
dung mit einer Statuette.
Abb. 90 Bernstein in Form eines menschli-
chen Kopfes. lm Profil werden die auffällig
weit vorspringende Nase sowie das kreisrund
eingeritzte Auge sichtbar. Unten findet sich
die Durchbohrung zum Auffädeln (vgl. auch
S. 88).
Abb. 91 Bemsteine verschiedener Form;
es fanden sich kleine Anhänger in Form von
Samen - Dreiecke, Fünfecke, schraubenför-
mige Gebilde, tierkopfähnliche, Ringe -
sowie roh belassene Formen, alle aber zum
Auffädeln durchbohrt.
Abb. 92 Kette aus Bernsteinen, Bergkri-
stall, Glas und glasiertem Ton. Die Bern-
steine sind zu Teil bearbeitet, z. T. Rohlinge;
fast alle Stücke sind zum Auffädeln durch-
bohrt. Aller Wahrscheinlichkeit nach
stammt der Bemstein aus dem Baltikum.
Seine Farben reichen von Rot bis Gelblich,
teilweise ist er durchscheinend, teilweise un-
durchsichtig. Gefunden 1987 im Norden der
Baldachinbasis. Vgl. Abb. 36.
die allen früheren dadurch überlegen ist,
daß sie zum erstenmal formale Überein-
stimmung mit der äußeren Erscheinung
der fraglichen Gebilde herstellt. Seiterle
erklärte die der Göttin umgehängten Beu-
tel als Stierhoden, die bei bestimmten
Festen als Fruchtbarkeitssymbole darge-
bracht und nach einiger Zeit wieder ent-
fernt und vergraben wurden. Er kann für
seine Deutung in Anspruch nehmen, daß
sie zumindest alle anatomischen Unge-
reimtheiten beseitigt, wie eine Rekon-
struktion mit realen Objekten beweist
(s. Frontispiz). Wie aber konnte ein Kir-
chenvater den neuen Christen einreden,
daß es sich um Brüste handelte, wenn
Zeitgenossen diese noch als Stierhoden
kannten? Es gibt aber auch andere
Schwierigkeiten: Denn mit dem Umbin-
den der Hoden allein ist es ja nicht getan,
sondern eine solche Praxis setzt einen
Stierkult voraus, und ein solcher ist
weder für die Vorläuferin der Artemis,
die kleinasiatische Göttermutter, noch
für diese selbst in irgendeiner Überliefe-
rung direkt bezeugt. Aus der Grabung
selbst gibt es außerdem eher geringe
Knochenreste von Rindern, und bei die-
sen handelt es sich meist um Kühe. Und
wieso hat man allein jenen ephemeren
Zustand mit den Hoden als einzige authen-
tische Darstellung im dauerhaften Mar-
mor kopiert?
Wir halten es für das Wahrscheinlich-
ste, daß der Schmuck der Statue mit for-
mal ähnlichen, jüngst im Heiligtum ge-
fundenen Bernsteinen zusammenhängt,
von denen weiter unten noch die Rede
sein wird. Die Bedeutung des Bernstein-
schmuckes als Imitation von Früchten
und damit Fruchtbarkeitssymbolen scheint
im Laufe der Zeit, bedingt durch die Er-
neuerungen des Kultbildes, verlorenge-
gangen zu sein. Man erinnerte sich aber
noch an die Form, und man hat ihr eine
besondere Bedeutung beigemessen. Ge-
rade sie hat - im Gegensatz zum Gürtel
der späteren Artemis Ephesia - eine Um-
deutung erfahren.
Sicher darf man sich das ephesische
Kultbild ähnlich vorstellen wie manche
unserer Marienbilder und -ikonen, die
nicht nur anläßlich bestimmter Feste neu
bekleidet werden, sondern auch von den
Gläubigen mit Votiven - die auch dann
und wann gewechselt werden können -
geradezu überhäuft werden. Die ver-
schiedenen liturgischen Gewänder erklä-
ren die Uneinheitlichkeit der römischen
Kopien bei der Darstellung der Antiqua-
ria. Die unzähligen Nachahmungen bele-
gen überdies die Popularität dieses Kult-
bildes in der Kaiserzeit. Die Ephesia war
weit über ihre Heimat hinaus bekannt,
ihre Bilder fanden sich nicht nur in der
Stadt Ephesos selbst oder im übrigen
Kleinasien, sondern auch in vielen Pro-
vinzen des Römischen Reiches. Auch das
Ende der Statue und des ihr gewidmeten
Kultes ist bekannt: Auf Betreiben des
Bischofs Johannes Chrysostomos wurde
sie im Jahr 401 n. Chr. ihres abnehm-
baren Schmuckes beraubt und wahr-
scheinlich auch zerstört.