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Bastine, Reiner [Hrsg.]
Klinische Psychologie (Band 1): Grundlegung der allgemeinen klinischen Psychologie — Stuttgart, Berlin, Köln, 1998

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https://doi.org/10.11588/diglit.16129#0065

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2.1 Wissenschaftstheoretische Grundlagen

nahmen (Axiomen) abgeleitet werden (Gadenne, 1994a). Die gesetzesartigen Aussagen
werden als universell gültig angesehen, d.h. sie gelten für eine unbegrenzte Klasse von
Fällen. Theoretische Aussagen und Beobachtungsebene sind durch ein System von Zu-
ordnungsregeln miteinander verbunden. Die Nichtaussagenkonzeption (Stegmüller,
1986; Westermann, 1987) geht dagegen von einer unmittelbaren und intendierten Ver-
bindung von strukturellen Annahmen und einer bestimmten Menge von Anwendungen
aus (sie wird daher auch als strukturalistische Theoriekonzeption oder als
(wissenschaftstheoretischer) Strukturalismus bezeichnet). Damit besagt sie im wesentli-
chen, daß eine Theorie nicht universell, sondern nur für bestimmte Anwendungsbereiche
gilt und allein auf diese anwendbar ist. Die Anwendungen sind durch ihren Schöpfer
intendiert und können durch Beispielsmengen definiert werden. Theorien beinhalten
deshalb von vorneherein eine geordnete Beziehung zwischen ihren Kernannahmen und
der Menge der intendierten Anwendungen. Eine Theorie selbst läßt sich - nach dieser
strukturalistischen Auffassung - in ihren Kernannahmen weder bestätigen noch widerle-
gen, sondern sie bewährt sich mehr oder weniger in ihren Anwendungen.

Durch die Nichtaussagenkonzeption wird vor allem das Verhältnis zwischen einer
Theorie und ihrer empirischen Überprüfung tangiert. Da nicht die Theorie als solche,
sondern lediglich die aus ihr abgeleiteten Hypothesen bestätigt oder widerlegt werden,
wird die Realgeltung einer theoretischen Aussage in einem Dreischritt (Theorie-Hypo-
these-Empirie) überprüft. Nach dieser Auffassung kann sich eine Theorie durchaus auch
für ihren ursprünglich intendierten Geltungsbereich als untauglich erweisen, während
andererseits neue Anwendungen für sie entdeckt werden. Theorien erscheinen aus dieser
Sicht eher als rationale „Werkzeuge" (Groeben & Westmeyer, 1981) oder als „Problem-
lösungsmittel", die „für bestimmte Zwecke, für bestimmte Handlungssubjekte und in be-
stimmten Zeitintervallen" (Herrmann, 1979, S. 31) eingesetzt werden. Damit zielt die
Theorie weniger auf ein wahres Bild der Wirklichkeit als auf ein adäquates, d.h. mög-
lichst widerspruchsfreies, erklärungs- und prognosekräftiges Hilfsmittel für deren Ver-
ständnis.

Allgemein hat in der wissenschaftstheoretischen Diskussion die Frage eine eminente
Bedeutung, wann eine Theorie als empirisch bestätigt oder widerlegt gelten kann. Die
Auseinandersetzungen um diese Frage wurde lange durch die Position von Popper
(1984) bestimmt, der als zentrales Kriterium die Widerlegbarkeit der aus einer Theorie
abgeleiteten Hypothesen ansah („Falsifikationskriterium"). Welche Bedeutung die Fal-
sifikation in der Wissenschaftsgeschichte hat, hat Rapoport (1967, p. 50) einmal treffend
bemerkt:

„In der Philosophie wie in der (Natur-)Wissenschaft ist der Widerspruch ein mächtiger Anreiz zum
Nachdenken. Widerspruch ist der Stoff, aus dem die Dialektik erwächst, und Dialektik ist der Stoff, der
die Philosphie ernährt. Paradoxien haben eine dramatische Rolle in der intellektuellen Geschichte gespielt,
oft revolutionäre Entwicklungen in Wissenschaft, Mathematik und Logik vorankündigend. Wenn immer
wir in irgendeiner Disziplin ein Problem entdecken, das innerhalb des konzeptuellen Rahmens, der dafür
vermeintlich brauchbar sein sollte, nicht gelöst werden kann, erleben wir einen intellektuellen Schock Der
Schock mag uns zwingen, das alte Rahmenkonzept zu verwerfen und ein neues zu entwickeln. Es ist

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