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Bastine, Reiner [Hrsg.]
Klinische Psychologie (Band 1): Grundlegung der allgemeinen klinischen Psychologie — Stuttgart, Berlin, Köln, 1998

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https://doi.org/10.11588/diglit.16129#0066

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2 Grundlagen der Klinischen Psychologie

dieser Prozeß des intellektuellen Einschmelzens, dem wir die Geburt vieler der großen Ideen in
Mathematik und Wissenschaft verdanken." (ÜdA.)

Neben der Rationalität der Theorie kam also der kritischen Prüfung an der Realität die
größte Bedeutung zu („kritischer Rationalismus"). Hinsichtlich der empirischen Bewer-
tung von Theorien stellt Gadenne (1994b) heute weniger strenge Maßstäbe auf, wenn er
sagt, „daß eine erfolgreiche Theorie nicht aufgegeben werden sollte, so lange keine bes-
sere zur Verfügung steht, die zusätzlich den abweichenden Befunden Rechnung trägt.
Auch eine falsche Theorie kann von beträchtlichem Nutzen sein, insbesondere dann,
wenn die Bedingungen identifizierbar sind, unter denen sie zu falschen Vorhersagen
führt" (S. 413). Und an späterer Stelle: „Es ist rational, die am besten bestätigte (be-
währte) Theorie vorzuziehen. ... Am besten bestätigt ist die am strengsten geprüfte und
nicht falsifizierte Theorie. Das Ausmaß der Bestätigung hängt weniger von der Zahl der
bestandenen Tests als von deren Strenge und Verschiedenheit ab" (S. 418-419; Hervor-
hebungen im Original).

Die wissenschaftlichen Erkenntnisse der Klinischen Psychologie sollen dazu dienen,
ihren Gegenstandsbereich systematisch zu beschreiben, zu erklären, zu prognostizieren
und anzuwenden. Eine wissenschaftliche Erklärung liegt dann vor, wenn beantwortet
werden kann, warum ein bestimmtes Phänomen oder Ereignis auftritt. Prognosen sind
Vorhersagen über das künftige Auftreten von Phänomenen oder Ereignissen, die auf der
Grundlage von wissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten und unter Beachtung der jeweili-
gen Ausgangsbedingungen getroffen werden. Sollen wissenschaftliche Erkenntnisse in
einem praktischen Kontext angewendet werden, wird von Technologie gesprochen.
Wissenschaftliche Erklärungen, Prognosen und technologischen Anwendungen unter-
scheiden sich also in ihren Zielsetzungen - d.h. in dem, was gesucht wird - und darin,
welche Informationen schon gegeben und damit bekannt sind.

Wenn man ein bestimmtes Phänomen oder Ereignis, z.B. das Auftreten einer Angst-
störung, erklären will, ist selbstverständlich die Erscheinung bekannt, die erklärt werden
soll (das Explanandum). Gesucht werden dagegen die Gründe für das Auftreten der
Angststörung. Nach Hempel und Oppenheim (1948) besteht eine logische Begründung
(das „Erklärende" oder Explanans) aus zwei Elementen, nämlich einmal einer allgemei-
nen Gesetzmäßigkeit und zum anderen den Antezedensbedingungen, die dem zu erklä-
renden Phänomen vorausgehen (und dieses „verursachen"). Dieses dreistufige logische
Erklärungsmodell wird nach den beiden Autoren auch „H-O-Schema" oder „deduktiv-
nomologische Ereigniserklärung" genannt. Die Gründe für das Auftreten der Angststö-
rung sind also einmal in einer Gesetzmäßigkeit, zum anderen in Antezedenzbedingungen
zu suchen. Im (unrealistisch) einfachsten Fall könnte die Angststörung damit erklärt
werden, daß einerseits die allgemeine Gesetzmäßigkeit (G) „Traumatische Ereignisse
führen zu Ängsten" gilt und andererseits die Antezedenzbedingung (A) „Person P hat ein
traumatisches Ereignis erlebt" vorliegt. Zur Erklärung hochkomplexer Phänomene wie
psychischer Störungen ist es allerdings realistischer, eine Reihe von Gesetzmäßigkeiten
und eine Vielzahl von Antezedens- und Randbedingungen anzusetzen. Obendrein sind

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