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Bastine, Reiner [Editor]
Klinische Psychologie (Band 1): Grundlegung der allgemeinen klinischen Psychologie — Stuttgart, Berlin, Köln, 1998

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https://doi.org/10.11588/diglit.16129#0261

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4.6 Abschließende Diskussion

barkeit zwischen der Natur der Psychopathologie und kategorialen Taxonomien her-
rührt" (Clark et al., 1995, p. 141; <=> 3.3.2). „Komorbidität" setzt dabei immer voraus,
daß es mehrere klare Zuordnungen zu Störungsbildern gibt. Das ist allerdings keines-
wegs immer der Fall, wenn beispielsweise bei einem Klienten mehrere Probleme aus
unterschiedlichen Bereichen zusammenkommen, die aber keiner Störungsklasse voll ent-
sprechen. Solche Merkmalskonstellationen können nach den Kriterien der Klassifika-
tionssysteme nur als „wenig konturierte Störungen" (<=> 3.3.2) definiert werden,
obwohl sie zweifellos behandlungsbedürftig sind (Bastine, 1992d). Damit stellt das
gleichzeitige Auftreten verschiedener pathopsychologischer Erscheinungen die
Distinktheit der diagnostischen Kategorien in Frage. Dies betrifft in gleicher Weise die
Abgrenzung zwischen den großen Störungsgruppen (z.B. von schizophrenen und affekti-
ven Störungen) wie die Abgrenzungen einzelner Störungen untereinander. Beispielswei-
se gibt es häufige Übergänge und atypische Fälle bei den beiden Eßstörungen Anorexia
nervosa (absichtlich herbeigeführter oder aufrechterhaltener Gewichtsverlust von min-
destens 15 % der erwarteten Körpergewichts) und Bulimia nervosa (wiederholte Anfälle
von Heißhunger und übertriebene Kontrolle des Körpergewichts) (Brownell & Fairburn,
1995; Laessle, 1994). Die Komorbiditätsforschung kann allerdings auch dazu beitragen,
die Gemeinsamkeiten und Eigenarten verschiedener Störungen aufzuzeigen. So konnte
der Züricher Psychiater Angst (1994) verschiedene interessante Zusammenhänge
zwischen den Angststörungen belegen, u.a. daß Agoraphobie und soziale Phobien sehr
eng zusammen gehören. Auch die phobischen Störungen treten häufig gemeinsam auf
(einfache Phobien, Agoraphobie und soziale Phobie). Unerwarteterweise sind Panikstö-
rungen weniger abgegrenzt, da sie Gemeinsamkeiten mit phobischen Störungen aufwei-
sen. Überraschend ist auch, daß die unscharf definierten Generalisierten Angststörungen
seltener mit anderen Angststörungen assoziiert sind.

Die Reinheit von Diagnosen. Wenn zur Diagnose einer Störung mehrere Kritierien zur
Auswahl stehen, die untereinander ersetzbar sind (polythetische Klassenzuordnung: •=>
4.2.4), nimmt die Heterogenität innerhalb der Klasse notwendigerweise zu. So können
zwei Klienten die gleiche Diagnose „Schizophrenie" erhalten, die sich beide in ihren
Symptomen erheblich voneinander unterscheiden. Für die meisten Störungen stellt die
Heterogenität innerhalb der jeweiligen diagnostischen Kategone ein erhebliches Pro-
blem dar, beispielsweise für die schon erwähnte Schizophrenie, aber auch für affektive
Störungen, Eßstörungen, Persönlichkeitstörungen, Angststörungen oder Zwänge (Clark
et al, 1995). Für Behandlung und Forschung stellt die interne Heterogenität die Nütz-
lichkeit der diagnostischen Kategorie in Frage; eine notwendige Konsequenz daraus ist,
in sich homogenere Subklassen zu bilden.

Störungsspezifische Diagnostik. Aus psychologischer Sicht hat das Interesse an der
Entwicklung von umfassenden Taxonomien psychischer Störungen unter dem Eindruck
der zahllosen unbewältigten Probleme und Schwierigkeiten deutlich abgenommen und
einer eher problem- und behandlungsspezifischen Forschung Platz gemacht. Ausschlag-
gebend dafür ist die Einsicht, daß psychische Störungen heterogen sind, jede Störungs-

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