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Bastine, Reiner [Hrsg.]
Klinische Psychologie (Band 1): Grundlegung der allgemeinen klinischen Psychologie — Stuttgart, Berlin, Köln, 1998

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https://doi.org/10.11588/diglit.16129#0279

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5.1 Kausalkonzepte psychologischer Störungstheorien

Das Diathese-Streß-Modell (Gottesman, 1993a; Meehl, 1990) ist eine Variante des Vulnerabilitätsmo-
dells, das ebenfalls eine zweifaktorielle Verursachung der Schizophrenie vorsieht. Die „Diathese" wird
hier jedoch ausschließlich als hereditäre Prädisposition verstanden; nur dieser Faktor wird in dem Modell
als spezifisch für die Schizophrenie angenommen, während die belastenden Umweltfaktoren (Streß)
dagegen als unspezifische Bedingungen aufgefaßt werden.

Im Unterschied dazu geht das Vulnerabilitäts-Streß-Modell davon aus, daß eine Vul-
nerabilität sowohl durch hereditäre wie auch durch erworbene Bedingungen entstehen
kann. Erworbene Verletzlichkeiten kommen z.B. durch traumatische Erfahrungen, spe-
zifische Erkrankungen, perinatale Komplikationen, familiäre Erfahrungen, die Interak-
tion mit jugendlichen Gleichaltrigen oder sogar noch spätere Lebensereignisse zustande.
Vulnerabilitäten können also sowohl durch biologische wie psychosoziale Faktoren und
auch in späteren Lebensabschnitten gebildet werden. Außerdem beeinflussen moderie-
rende Bedingungen das Ausbrechen oder Nichtausbrechen einer schizophrenen Episode,
etwa prämorbide Kompetenzen der Person, ihren Bewältigungsfähigkeiten und Bewälti-
gungsbemühungen. Streß wird innerhalb des Modells im wesentlichen als eine Bela-
stung durch Kritische Lebensereignisse gesehen, insbesondere Ereignisse im Lebenslauf
wie Trauerfälle, Beförderung, Heirat oder Scheidung, die Anpassungsprozesse erfordern
und eine Reorganisation des Lebens notwendig machen.

Das Vulnerabilitäts-Streß-Modell der Schizophrenie hat enorme Resonanz gefunden
und wurde weiter ausdifferenziert. Dies hängt vor allem auch mit seinen wissenschaftli-
chen Potentialen zusammen. Entscheidende Anstöße entstanden unter anderem

erstens durch die im Modell angelegte Möglichkeit, Vulnerabilität als Merkmal zu
operationalisieren und zu erfassen. Als Vulnerabilitätsmarker wurden inzwischen
unzählige Merkmale untersucht, vor allem neuropsychophysiologische Auffälligkei-
ten (Dysfunktion der Augenfolgebewegungen, erhöhte autonome Reagibilität) und
Störungen der basalen Informationsverarbeitung (sogenannte Basisstörungen) {<=>

5.2.1) .

Zweitens konnte auch das Konzept von Streß wesentlich weiterentwickelt werden.
Streß ist allgemein durch ein Muster aus vier Merkmalen zu kennzeichnen: (a) eine
ursächliche externale oder internale Belastung (Stressor), (b) eine Bewertung,
durch die bedrohliche oder schädliche Bedingungen von wohltuenden unterschie-
den werden, (c) ein Bewältigungsprozess, um mit den belastenden Anforderungen
umzugehen sowie (d) eine komplexes psychophysisches Wirkungsmuster, das als
Streß-Reaktion bezeichnet wird (Lazarus, 1993). Streß ist das Ergebnis eines Pro-
zesses, in dem die biopsychosozialen Ressourcen einer Person herausgefordert
werden, mit schwierigen Ereignissen oder Umständen fertig zu werden. Die situati-
ven Anforderungen stehen dabei in einem Mißverhältnis zu den bestehenden Res-
sourcen, so daß die Person erhebliche Bewältigungsleistungen erbringen muß. Kli-
nisch bedeutsam sind dabei vor allem vier Arten von Stressoren: traumatische Er-
eignisse (Unfälle, Katastrophen u.ä ), kritische Lebensereignisse (z.B. Tod des Le-
benspartners), chronische Belastungen sowie alltägliche belastende Ereignisse^

5.2.2) .

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