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Das Buch für alle: illustrierte Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für die Familie und Jedermann — 46.1911

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Heft 10
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https://doi.org/10.11588/diglit.60742#0222
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214 — — ..
anlassung ging er in Lady Desmonds Zimmer, um
zu fragen, ob ich der Kranken irgendwie behilflich
sein, bei ihr wachen dürfe, aber Frau Taylor,
die mit ihm wieder herauskam, versicherte mir, eine
besondere Nachtwache wäre nicht erforderlich. Sie
selbst würde bei ihrer Herrin schlafen — ich möchte
nur ruhig in mein Zimmer gehen, aus dem sie mich
rufen würde, falls ich etwas helfen könnte. Ich
beschrieb ihr genau, wie der Anfall gekommen war,
und tat dann, wie mir geheißen wurde: ich ging
hinauf in mein Zimmer, machte es mir so behaglich
als möglich und wartete die Dinge ab, die da
kommen würden, indem ich den schönen Abend be-
dauerte, um den ich gekommen war, was ich ohne
Gewissensbisse tun durfte und ohne zu großen Egois-
mus, nachdem ich wußte, daß Lady Desmond nicht
ernstlich erkrankt war.
Nach einer Weile kam Pfifferling, den ich den
ganzen Tag nicht gesehen hatte, und brachte mir eine
Platte mit kaltem Fleisch und so weiter an Stelle
des „Dinners". Während er mir den Imbiß ser-
vierte, ließ er die Tür zu der Loggia sperrangelweit
offen stehen und winkte energisch, als ich sie schließen
wollte, denn es kam kalt von draußen herein. Mein
lautes „Aber —" schnitt er damit ab, daß er den
Finger warnend au die Lippen drückte, und während
er mit den Tellern und Bestecken klapperte, führten
wir ein Gespräch wie Taubstumme durch Gesten.
Er deutete mir an, daß ihm jemand nachgegangen
wäre. „Sie mißtrauen mir!" formten seine Lippen
fast lautlos die Worte.
Ich deutete auf den Kaminvorsetzer, wo ich mei-
nen Bericht Nummer 6 wie gewöhnlich verborgen
hatte.
Rasch nahm er die Blätter an sich, verbarg sie
unter seiner Weste und sagte dann laut: „Haben
gnädiges Fräulein noch einen Befehl?"
Ich verneinte ebenfalls laut, worauf Pfifferling
sich verzog, nachdem er mit einer Deutlichkeit auf mei-
nen Teller gezeigt hatte, die nichts zu wünschen übrig
ließ, das heißt, ich glaubte, er wünschte mich damit
zum Essen aufzufordern, aber als ich die Serviette
entfaltete, fiel daraus ein Briefumschlag heraus, der
jedoch nur meine entwickelten Films enthielt — ohne
das Porträt, das ich heimlich von Lady Desmond
gemacht hatte.
War es mißlungen? Hatte Pfifferling es zurück-
behalten?
Ich war ärgerlich, daß mir die Aufnahme ent-
gangen war, und wunderte mich, daß der Film
fehlte — jetzt weiß ich freilich, daß Pfifferling ihn
seinem Chef gebracht hatte. Konnte er mir das
nicht sagen?
Nach einer Stunde etwa erschien James und
räumte den Tisch ab. Er berichtete auf mein Be-
fragen, daß Lady Desmond ruhig schliefe, worauf
auch ich bald zur Ruhe ging.
Ich kann aber nicht sagen, daß ich sie fand. Ab-
gesehen von dem mich persönlich Berührenden er-
tappte ich mich fortwährend darauf, daß ich auf
etwas horchte, mich mit lautem Herzklopfen im Bett
aufrichtete in der Erwartung auf irgend etwas —
zum Beispiel zu Lady Desmond gerufen zu werden.
Aber niemand rief mich, niemand versuchte bei mir
einzudringen —- alles war still, totenstill.
Ein paarmal stand ich auf, trat an das Fenster
und sah hinaus in die mondlose Nacht. Unten, in
Lady Desmonds Salon war immer noch Licht, aber
die Vorhänge waren herabgelassen und man konnte
nicht hineinsehen. Wahrscheinlich hielt Frau Taylor
ihre Nachtwache dort.
Endlich gegen Morgen schlief ich ein, hatte aber
schwere, unruhige Träume und stand danach auf wie
zerschlagen.
Es war etwas später geworden als gewöhnlich,
und mein Frühstück wurde mir von James gebracht,
ohne daß ich darauf zu warten brauchte. Natürlich
fragte ich gleich nach Lady Desmonds Befinden und
hörte, daß sie zwar aufgestanden wäre, sich aber den
Morgen über sehr still halten wollte. Sie ließ mich
grüßen und mir sagen, ich möchte nur heute früh
ganz nach Belieben über meine Zeit verfügen; falls
ich den Wagen wünschte, sollte ich es James nur
sagen.
Ich dankte dafür, denn ich war heilfroh, einmal
zu Fuß an die Luft zu kommen, und bald nach dem
Frühstück kleidete ich mich zum Ausgehen an, um
die schöne Zeit meiner kurzen Freiheit nicht unnütz
zu vergeuden.
Beim Hinabgehen nahm ich aber den Weg über
den alten Flügel, um mich schicklicherweise selbst noch
einmal nach Lady Desmond zu erkundigen und zu
fragen, ob sie etwa einen Auftrag für mich hätte.
Während ich mich vergebens nach James umsah,
um mich melden zu lassen, denn ich wollte mit Äb-
sicht jede Spur von Vertraulichkeit vermeiden, trat
Mister Weed aus dem Salon heraus. Es fiel mir
auf, daß er schlecht aussah. Sein immer farbloses,

— Vas Luch fül- Me —
aber nicht ungesundes Gesicht war heute grau, tiefe
Schatten lagen ihm unter den Augen. Als er mich
aber vor sich sah, fuhr er zurück wie gestochen, und
sein Gesicht wurde geradezu grün. Er machte die
Tür hinter sich zu, sah sich um, als suchte er etwas,
und trat dann dicht an mich heran.
„Warum sind Sie hier? Waren Sie aus?" fragte
er leise und so heiser, daß es kaum zu verstehen war.
„Ich will ausgehen, wollte aber vorher fragen,
ob Lady Desmond einen Auftrag für mich hat."
„Ich—ich komme eben, um Sie zu ihr zu rusen —"
„Sie?" unterbrach ich ihn erstaunt.
„Ich," wiederholte er, und unsympathisch, wie
er mir war, tat er mir doch leid, weil er so elend aus-
sah. „James ist ausgegangen — der deutsche Diener
mußte wegen einer Zahnoperation ins Hospital ge-
schickt werden-es ist ja ganz gleich, warum
gerade ich Sie zu rufen komme."
„Ich kann also direkt zu Lady Desmond hinein-
gehen?"
„Ja — aber warten Sie einen Moment. Sie
denken, ich bin hinaufgegangen, Sie zu holen."
Mister Weed wischte sich mit dem Taschentuch
den Schweiß von der Stirne, trotzdem der Morgen
kalt und der Vorsaal eisig war.
„Erinnern Sie sich, daß ich Sie vor diesem Hause
gewarnt habe?" fuhr er so leise fort, daß es nur
wie ein Hauch war, was er sprach. „Sie haben
nicht auf mich gehört — hören Sie mich wenigstens
heute. Versprechen Sie es mir!"
Ich wußte nicht, wie mir geschah. War der
Mensch wirklich krank, war er nicht richtig im Kopfe?
„Nein, nein," sagte er, die Hände ringend, „ich
bin nicht verrückt. Herr des Himmels, fühlen Sie
es denn nicht, wenn eines Menschen Absichten rein
sind und redlich? Treten Sie nicht mit Füßen dar-
auf, sondern hören Sie auf mich! Wenn Lady
Desmond — Ihnen drinnen die Drehvorrichtung
bei der Büste der Messalina zeigt, dann — passen
Sie genau auf — dann treten Sie unter keinen
Umständen auf das Parkett. Lassen Sie sich durch
nichts, nichts, nichts bewegen, den Teppich zu ver-
lassen. Haben Sie mich verstanden?"
Nein, verstanden hatte ich ihn nicht, das habe
ich auch heute noch nicht ganz getan, wenn schon mir
wohl ein Verdacht aufsteigen will, der aber denn
doch zu phantastisch, zu ungeheuerlich ist und sicher-
lich nicht in unser braves zwanzigstes Jahrhundert
paßt. Aber ich fühlte instinktiv, daß der Mann mich
wirklich warnen wollte, daß etwas Ungreifbares in
der Luft lag und über mir hing.
„Ich werde daran denken — ich werde den Teppich
nicht verlassen," sagte ich. „Aber," setzte ich mich
zusammennehmend hinzu, „aber ich kann auch erst
ausgehen und dann —"
„Gut. Versuchen Sie es," sagte er und trat
zur Seite.
Ich ging die Treppe hinab und — fand unten
den Ausgang verschlossen. Der Portier war nicht
in seiner Loge, und auch seine Wohnung, an der ich
anklopfte, war abgesperrt. Nun dachte ich an den
Ausgang nach der kleinen Piazza, wo die Kirche
steht, denn dort lagen die Wirtschaftsräume. Aber
auch die Verbindungstür nach diesem Teil des Hauses
war zugeschlossen, und kein Klopfen nützte etwas.
„Das ist doch sonderbar!" sagte ich laut.
„Durchaus nicht," belehrte mich Mister Weeds
Stimme hinter mir. „Der Portier hat für heute
Urlaub, weil er in Familienangelegenheiten nach
Subiaco mußte oder wollte. Er kann erst am Abend
wieder zurück sein. Da wir aber in diesem Falle für
das Haus und was darin ist verantwortlich sind, so
hat James für die übrigens nur kurze Dauer seines
Ausganges alle die Türen abgeschlossen, durch die
jemand unbemerkt eintreten könnte."
„Also bin ich hier so gut wie gefangen," rief ich
ärgerlich.
„Wir sind es alle — bis James wiederkommt,"
bestätigte Mister Weed. „Wenn Sie aber Eile haben,"
suhr er leise und betont fort, „dann gehen Sie so
rasch wie möglich über die Seitenstiege hinauf in
Ihr Zimmer, steigen die Wendeltreppe durch den
Wandschrank hinab ins Mezzanin, das momentan
von der Loggia aus auch abgeschlossen ist, und ver-
lassen den Palazzo durch den Verbindungsgang. Ist
die andere Tür zu, danu klopfen Sie nur recht laut
an — Herr v. Burgfried ist daheim und wird Ihnen
schon öffnen. Und — kommen Sie nicht wieder!
Fragen Sie nicht, sondern eilen Sie! Ich habe
Lady Desmond gesagt, daß Sie noch nicht fertig
wären und gleich herabkommen würden. Eilen Sie,
eilen Sie!"
Etwas im Tone dieses Menschen bewog mich,
kritiklos und automatisch zu folgen. Ich mußte, um
zu der Seitentreppe zu gelaugeu, die Haupttreppe
bis zum Vorsaal emporsteigen, der die Verbindung
mit dem alten Flügel bildete. Er sowohl wie die
Treppe war mit dicken Läuferteppichen belegt, auf

- lM w
denen man geräuschlos emporsteigen konnte. Zu
hören brauchte man mich also nicht, aber als ich
den Vorsaal kreuzen wollte, trat Frau Taylor aus
der Tür zu Lady Desmonds Zimmern.
„Oh — da sind Sie ja!" sagte sie, mich erblickend.
„Mylady erwartet Sie."
Unwillkürlich sah ich mich um — Mister Weed
war mir nicht gefolgt; es blieb mir also nichts anderes
übrig, als an der Kammerfrau vorbei in den Salon
zu treten, in den sie, mich anmeldend: „Miß Oliva,
Mylady!" hineingerufen hatte.
Lady Desmond stand vor ihrem Schreibtische
und wandte den Kopf nach mir herum. „Sie find
Wohl recht auf mich ergrimmt, weil ich Ihnen gestern
den schönen Abend so verdorben habe, Oliva?" rief
sie mir zu. „Nun, lassen Sie's gut sein — wir
werden das schon einholen. Es geht mir heute wieder
ausgezeichnet, nur ein bißchen schonen muß ich mich
noch. Wollen Sie ausgehen?"
„Ja, Lady Desmond — kann ich Ihnen etwas
besorgen?" fragte ich mit einer mir selbst ganz frem-
den Stimme, denn ich stand unter dem Einfluß der
Begegnung mit Mister Weed, und ein Etwas, für das
ich keinen Namen hatte, drückte mir die Kehle zu.
„Ja," rief Lady Desmond nach einer kleinen
Pause, „Sie können mir etwas besorgen. Fragen
Sie doch in einem der großen Photographiegeschäfte,
ob es nicht eine Photographie der Messalinenbüste
in der Villa Albani gibt. Sie wissen, oder auch
nicht, daß Fürst Santa Chiara behauptet, seine Büste
wäre das Original, jene eine spätere Kopie. Es
würde mir Vergnügen machen, die beiden Büsten
zu vergleichen. Übrigens hatte Herr v. Burgfried
recht: die Büste ist drehbar. Ich habe den Schlüssel
dazu machen lassen. Warten Sie, ich will Ihnen
zeigen, wie schön das Profil gegen das Dunkel der
Nische heraustritt. Sie müssen sich hierher stellen —"
Damit machte sie eine Handbewegung und ging,
auf ihren Stock gestützt, zu der Büste, vou deren
Ständer sie ein kolbenartiges Instrument nahm,
dessen Stiel sie in dem Postament in die Öffnung
steckte, die Fritz uns gezeigt hatte. „So," fuhr Lady
Desmond fort, die rechte Hand auf den Kolben
legend, „nun kommen Sie näher, Oliva, und treten
Sie in der Richtung der Nische — ja, gerade zwischen
die zwei Teppiche. Das ist der beste Standpunkt.
— Oliva!" setzte sie scharf hinzu, weil ich mich nicht
rührte, „Oliva, haben Sie nicht verstanden?"
Ich antwortete nicht und machte auch keine Be-
wegung — ich sah nur wie fasziniert auf die Stelle
zwischen den zwei Teppichen — sie war gerade vier
Holzquadrate breit, zwei dunkle und zwei Helle.
„Eigentlich ein ganz gewöhnliches Muster," dachte
ich. Ich wußte nicht und weiß es heute noch nicht,
was ich von diesem Streifen Holzparkett erwartete,
ich wußte nur, daß Mister Weed mich nicht darauf
treten lassen wollte, daß ich ihm versprochen hatte,
nicht darauf zu treten, wenn Lady Desmond an der
Messalinenbüste stand. Es ging nur durch den Kopf,
daß es die Idee eines Wahnsinnigen sei, und zu-
gleich das breitgetretene Zitat: „Ist es gleich Wahn-
sinn, hat es doch Methode." Und ich war ent-
schlossen, dieser Idee auf den Grund zu gehen.
Lady Desmond wiederholte ihre Einladung,
näher zu treten, zwei-, dreimal, immer lauter,
schärfer, zuletzt befehlend.
Es nützte nichts, ich stand wie eine Salzsäule.
Dabei hatte ich aber das Bewußtsein, daß ich eigent-
lich höflicherweise hätte antworten müssen, und wenn
es gleich eine Weigerung oder eine Ausflucht war.
„Wenn Sie jetzt nicht sofort tun, was ich befehle,
werde ich Sie zwingen!"
Diese Worte weckten mich auf. Mit einem
scheuen Blick auf Lady Desmond, die immer größer
zu werden schien, drehte ich mich um und lief zur
Tür. — Herrgott, wenn diese geschlossen war —
was dann? Das ging mir noch durch den Kopf, als
ich hinauslies, und dann der Gedanke: Jetzt hin-
auf in mein Zimmer und durch den Wandschrank
direkt in den Palazzetto!
Hinter mir hörte ich eine elektrische Glocke geradezu
Feuer läuten, ich hörte eine Tür öffnen, aber ohne
zurückzublicken jagte ich hinauf und — blieb oben
wie festgenagelt stehen: meine Schlafstubentür stand
weit offen und drinnen rumorte jemand herum.
War es das Mädchen, das aufräumte? Das lag ja
am nächsten. Doch schlich ich leise näher, um un-
gesehen hiueinzuspähen, denn wenn es auch das
Mädchen war, ko hinderte sie mich doch am Wege,
dem Wege, den Mister Weed mir gezeigt.
Vorsichtig sah ich durch den Ritz der Tür und
hätte fast einen Ruf der Überraschung ausgestoßen,
denn mitten in meiner Schlafstube stand ein großer
Korb, und Frau Taylor warf aus der Kommode
und dem Kleiderschrank, vom Tisch und aus den
Schubfächern wahllos meine Sachen hinein,
Wäsche, Schuhe, Spitzen, Hüte, Kleider — alles
durcheinander.
 
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