varLuchfül-We
Illustrierte familienreitung
19. Heft. 1911.
räumen, und bin einfach ausgekratzt. In diese
Zwangsanstalt gehe ich nicht wieder — das steht
fest."
„Deine Mutter wird verlangen, daß du sofort
wieder zurückgebracht wirst."
„Papa behält mich trotzdem. — Tantchen, du
siehst ja ganz blaß aus! Habe ich dich so erschreckt?
Verzeih mir, du liebes, süßes Tantelmäuschen!"
„Wie du jetzt schmeicheln kannst, kleine Katze!
Und vor dem Lehrer wolltest du dich durchaus nicht
entschuldigen?"
„Nein, denn er ist ein Lügner — und wer lügt,
den verachte ich, dem bitte ich nichts ab."
Der trotzige Ausdruck in ihrem weichen, reizen-
den Mädchengesicht erinnerte lebhaft an die scharfen,
charaktervollen Züge des Vaters.
„O Kind — Kind!" Ein fröstelndes Unbehagen
überlief Sophie v. Webern bei Lisas Worten. Wie
sollte sich ein harmonisches Zusammenleben gestalten,
wenn die Tochter ihre Mutter und ihre Tante be-
Der Medderkoog.
5chleswig-ljolsteinscher Uornan von
Henriette o. MerHeimd.
lrottsehung.) -- - — (Nachdruck verboten.)
Zweites Kapitel.
antchen — Tantchen!"
Sophie v. Webern sah sich erstaunt um.
Träumte sie — oder woher kam auf ein-
mal diese süße, langentbehrte Stimme?
„Hier, Tantchen — in der Hecke stecke
ich! Hilf mir! Die Ranken halten mich fest. Mein
Kleid reißt. Schadet aber nichts, Schelte gibt's heute
abend doch noch!"
Ein kühner Sprung über die dicke, dornige Hecke,
die den Park von der Dorfstraße trennte — und vor
der erschrockenen Tante stand die zierliche Gestalt
ihrer Nichte Lisa v. Reventlow im grauen, ehrbaren
Pensionskleid, in das die dornigen Ranken große
dreieckige Löcher gerissen hatten.
„Lisa! Um des Himmels willen — Lisa! Wo
kommst du her?"
„Aus Kopenhagen, Tantchen. Erst mit dem
Schiff, dann mit der Bahn und schließlich mit Klaus
Tiefens Kälberwagen. Der hat mich hier an der
Weißdornhecke abgesetzt. Dann hab' ich ein Schmalz-
brot gegessen, das Klaus Tiefen mir menschen-
freundlicherweise zusteckte, und hab' euch dabei
beobachtet. Ihr spracht sehr laut und gereizt zu-
sammen, darum beschloß ich, erst besseres Wetter
abzuwarten, vor allem dich erst allein zu treffen,
Tantchen."
„Unglückskind, was hast du wieder angestellt?"
„In der Pension drohten sie mir, mich hinaus-
zuwerfen, weil ich dem Geschichtslehrer widersprochen
hatte und nicht ab- bitten wollte. Da
zog ich es vor, frei- willig das Lokal zu
XIX. Idll.
Zur silbernen ljochrett des württernbergischen königspaares. Nach Photographien von Ih. Nndersen, hofphotograph in Stuttgart, (S. 41b)
Illustrierte familienreitung
19. Heft. 1911.
räumen, und bin einfach ausgekratzt. In diese
Zwangsanstalt gehe ich nicht wieder — das steht
fest."
„Deine Mutter wird verlangen, daß du sofort
wieder zurückgebracht wirst."
„Papa behält mich trotzdem. — Tantchen, du
siehst ja ganz blaß aus! Habe ich dich so erschreckt?
Verzeih mir, du liebes, süßes Tantelmäuschen!"
„Wie du jetzt schmeicheln kannst, kleine Katze!
Und vor dem Lehrer wolltest du dich durchaus nicht
entschuldigen?"
„Nein, denn er ist ein Lügner — und wer lügt,
den verachte ich, dem bitte ich nichts ab."
Der trotzige Ausdruck in ihrem weichen, reizen-
den Mädchengesicht erinnerte lebhaft an die scharfen,
charaktervollen Züge des Vaters.
„O Kind — Kind!" Ein fröstelndes Unbehagen
überlief Sophie v. Webern bei Lisas Worten. Wie
sollte sich ein harmonisches Zusammenleben gestalten,
wenn die Tochter ihre Mutter und ihre Tante be-
Der Medderkoog.
5chleswig-ljolsteinscher Uornan von
Henriette o. MerHeimd.
lrottsehung.) -- - — (Nachdruck verboten.)
Zweites Kapitel.
antchen — Tantchen!"
Sophie v. Webern sah sich erstaunt um.
Träumte sie — oder woher kam auf ein-
mal diese süße, langentbehrte Stimme?
„Hier, Tantchen — in der Hecke stecke
ich! Hilf mir! Die Ranken halten mich fest. Mein
Kleid reißt. Schadet aber nichts, Schelte gibt's heute
abend doch noch!"
Ein kühner Sprung über die dicke, dornige Hecke,
die den Park von der Dorfstraße trennte — und vor
der erschrockenen Tante stand die zierliche Gestalt
ihrer Nichte Lisa v. Reventlow im grauen, ehrbaren
Pensionskleid, in das die dornigen Ranken große
dreieckige Löcher gerissen hatten.
„Lisa! Um des Himmels willen — Lisa! Wo
kommst du her?"
„Aus Kopenhagen, Tantchen. Erst mit dem
Schiff, dann mit der Bahn und schließlich mit Klaus
Tiefens Kälberwagen. Der hat mich hier an der
Weißdornhecke abgesetzt. Dann hab' ich ein Schmalz-
brot gegessen, das Klaus Tiefen mir menschen-
freundlicherweise zusteckte, und hab' euch dabei
beobachtet. Ihr spracht sehr laut und gereizt zu-
sammen, darum beschloß ich, erst besseres Wetter
abzuwarten, vor allem dich erst allein zu treffen,
Tantchen."
„Unglückskind, was hast du wieder angestellt?"
„In der Pension drohten sie mir, mich hinaus-
zuwerfen, weil ich dem Geschichtslehrer widersprochen
hatte und nicht ab- bitten wollte. Da
zog ich es vor, frei- willig das Lokal zu
XIX. Idll.
Zur silbernen ljochrett des württernbergischen königspaares. Nach Photographien von Ih. Nndersen, hofphotograph in Stuttgart, (S. 41b)