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Das Buch für alle: illustrierte Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für die Familie und Jedermann — 46.1911

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Heft 23
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https://doi.org/10.11588/diglit.60742#0495
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S00 -
ver Medderkoog.
5chleswig-siolsteinscher lloman von
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paar Sekunden blieb Gräfin Luise still,
dann sagte sie in ganz verändertem Ton:
IVcv'El „Du bist eine kleine Pedantin, Lisa, ge-
rade wie dein Vater auch. Aber meinet-
wegen mag Karin gleich ihren Brief oben
vorfinden. Wahrscheinlich wird gar nichts Wichtiges
drin stehen, und ich bin überängstlich. Zieh dich jetzt
um. Deine Schuhe müssen naß sein — wer weiß,
ob der Vater nicht wieder einen Gast aus Rendsburg
mitbringt? Leutnant v. Rantzau Pflegt, seitdem er
dorthin kommandiert ist, den Vater ost zu begleiten,
wenn er ihn trifft."
Da war das Stichwort gefallen. Lisa wurde
dunkelrot. Sie umarmte Tante Fiekchen stürmisch
und tanzte zur Tür. „Tantchen, komm nachher hin-
auf und hilf mir beim Haarmachen. Die Flechten
recht hoch gesteckt — weißt du?" bat sie noch vom
Korridor aus.
„Ja — ja, Lisa, Tante Fiekchen kommt zu dir,"
versprach die Gräfin ungewöhnlich freundlich. —
„Sowie Lisa in ihrem Zimmer ist, geh leise in Karins
Stube und hole mir den Brief herunter," befahl
sie dann der Schwester.
Fräulein v. Webern mußte etwas Ähnliches er-
wartet haben. „Du weißt, wie ungern ich so etwas
tue, Luise! Wenn Karin das merkt — oder Lisa!"
wandte sie schüchtern ein.
„Keine von beiden merkt das geringste, wenn
du geschickt bist. Graf Holm siegelt seine Briefe
mit Wachs. Wenn das erwärmt wird, ist es eine
Kleinigkeit, solchen Brief zu öffnen. — Schnell —
geh! Lisa ist jetzt oben, ich höre sie über uns taufen."
Das alte Fräulein seufzte tief. Aber sie wagte
keinen Widerspruch.
Nach kurzer Zeit trat sie wieder zur Schwester
und hielt ihr den Brief, den sie unter ihren Schal-
enden verborgen getragen hatte, hin. „Was kann
dir nur daran liegen, diesen Brief zu lesen, Luise?
Karin erzählt doch gewiß freiwillig den Inhalt!"
„Sie erzählt gerade so viel, wie ihr beliebt. Das
Wichtigste behält sie für sich," antwortete Gräfin
Luise kaltblütig. „Mir ist es von unschätzbarem
Wert, über die Entschlüsse des Ministers und die
politische Lage in Dänemark unterrichtet zu sein.
Mach mir eine Stricknadel heiß."
Tante Fiekchen hielt gehorsam eine ihrer Strick-
nadeln in das rasch entzündete Licht. Dann fuhr
sie geschickt mit der heißen Nadel über das Siegel.
Das Wachs schmolz an den Rändern, und das Siegel
ließ sich daher leicht öffnen.
Gräfin Luise entfaltete den langen Brief und
las eifrig. Manchmal runzelte sie die Stirn. Ab
und zu lachte sie leise auf.
„Ausgezeichnet! Der Graf hat wirklich viel Witz.
Er beschreibt das Leben in Frederiksborg höchst amü-
sant, und welche Künste er und Mamsell Rasmussen
anwenden, um den Kronprinzen vom Trinken ab-
zuhalten. Die Rasmussen beteiligt sich auch an der
Aufstellung der nordischen Altertümer, obgleich sie
nichts Wertvolles daran entdecken kann. Und nun
hör einmal diese Stelle, Fiekchen: ,Daß Du Dich so
unglücklich in Johannisberg fühlst, meine arme Karin,
bedaure ich unendlich — vorausgesehen habe ich das.
Aber fasse noch keine übereilten Entschlüsse, geliebtes
Kind, Du kannst unmöglich jetzt Herkommen. Wir
sind gewärtig, jede Stunde nach Kopenhagen reisen
zu müssen, denn der König liegt im Sterben. Es
kann nur noch Tage dauern — länger nicht. Die
Stunde seines Todes ist die unserer Erlösung, Karin.
In Kopenhagen sieht's bös aus. Das Ministerium
Hall ist höchst unbeliebt. Die Verfassung, an der
der kranke König arbeitet, ist den Eiderdänen, deren
Haupt der Advokat Orla Lehmann ist, lange nicht
weitgehend genug. Ich bin sehr gegen diese Kon-
zessionen und sehe nichts Gutes daraus entstehen.
Aber es ist möglich, daß auch wir, wenn der Kron-
prinz zur Regierung kommt, zuerst nachgeben müssen.
Dein alter Verehrer Torp sucht uns oft auf, bringt
uns Neuigkeiten und hört durch mich von Dir. Durch
den Tod seines Onkels ist er noch viel reicher ge-
worden und gilt jetzt für die beste Partie in Kopen-
hagen. Hörst Du das, Du kleine Törin? Aber gegen
die Liebe ist kein Kraut gewachsen. Das meint Kron-
prinz Friedrich auch und bleibt fest auf seinem Heirats-
gedanken bestehen. Die Abendstunden verbringen
wir meist bei der Witwe Sneckersen. Fräulein Ras-
mussen plaudert. Kronprinz Friedrich trinkt ein Glas
Grog nach dem anderen, bis die alte Sneckersen
energisch die Rumflasche wegnimmt. Beide zanken
sich in einer wahren Schiffersprache darüber. Die
Rasmussen möchte sich totlachen dabei. — Ich werde

Vas Luch sui- Me '.— 2)

unterbrochen, Karin. Ein Eilbote aus Kopenhagen
meldet, daß König Christian VIII. im Sterben liegt.
Wir brechen sogleich auf. Den Tod des Königs
melde ich Dir sofort — und teile Dir auch meine
Entschlüsse mit/ — Nun, lohnte das etwa nicht,
diesen Brief zu lesen?"
Gräfin Luise schob das Schreiben vorsichtig in
den Umschlag zurück und drückte schnell wieder das
erhitzte Wachs mit dem Griff ihrer Schere zusammen.
„Kein Mensch kann sehen, daß der Brief geöffnet
wurde."
„Den Inhalt hättest du noch früh genug erfahren,"
widersprach Fräulein v. Webern etwas gereizt. Sie
empfand das Offnen dieses fremden Briefes wie
eine schwere Schuld.
„Ich lasse mich nicht gern von den Ereignissen
überraschen," entgegnete Gräfin Luise ktchl. „Jetzt
kann ich mir vorher alles in Ruhe zurechtlegen, was
ich sagen und raten will, wenn der Tod des Königs
eintritt. Trage den Brief wieder hinauf, Fiekchen,
und lege ihn genau auf dieselbe Stelle, von der dn
ihn fortnahmst."
Aber ehe noch Fräulein v. Webern gehorchen
konnte, rollte ein Wagen vor das Haus. Sie hörten
Christians und Karins Stimmen. Fräulein v. We-
bern konnte nur noch rasch den Brief in ihrem Kleid
verbergen, als das Brautpaar auch schon auf der
Schwelle stand.
„Karin hatte sich verirrt," rief Christian. „Sie ist
ganz naß und sehr müde."
„Am liebsten legte ich mich gleich ins Bett —
so angegriffen bin ich," jammerte Karin.
„Das wird nicht nötig sein, Kind. Zieh dich rasch
um. Wir erwarten noch Besuch, und Christian wäre
doch untröstlich, dich heute abend nicht mehr zu
sehen."
„In dem Fall würde ich auch zurück nach dem
Medderkoog fahren," antwortete der junge Offizier.
Aber Karin beantwortete weder die Worte noch
den zärtlich flehenden Blick. Sie wandte sich zum
Gehen.
„Darf ich dir helfen, Karin?" fragte Tante Fiek-
chen. Der unterschlagene Brief brannte wie Feuer
in ihrer Tasche. Sie hoffte, wenn sie Karin beim
Umziehen half, ihn unbemerkt auf deu Toiletten-
tisch legen zu können.
„Danke sehr. Meine Jungfer bedient mich,"
antwortete Karin kühl.
Aber Tante Fiekchen, die sonst so sensitiv bei jeder
noch so leisen Abwehr sich zurückzog, ging ihr heute
nicht von der Seite, sondern folgte ihr unter allen
möglichen Vorwänden, deren Absichtlichkeit sie nicht
sehr schlau zu verbergen wußte.
Gräfin Luise zuckte unmerklich die Achseln über
das Ungeschick der Schwester. Sie hatte aber ihren
Zweck erreicht. Wie Sophie sich nun herauszog,
kümmerte sie wenig. Sie war froh, mit dem Sohn
allein zu sein, und benützte geschickt seine augen-
scheinlich gedrückte Stimmung, um ihm zu erzählen,
daß sie bemerke, wie Karin krank vor Heimweh nach
ihrem geliebten Kopenhagen sei, und daß sie nicht
glaube, daß dieses zarte, verwöhnte Geschöpf sich
jemals bei ihnen einleben würde.
Diese Bemerkungen paßten genau zu Karins
Worten und zu Christians eigenen Beobachtungen.
Er widersprach nicht, als die Mutter dringend riet,
im Fall der kranke König stürbe, sofort in seine
Garnison zurückzukehren. Auf welche Weise sie von
der Verschlimmerung im Befinden des Königs etwas
erfahren habe, verriet sie natürlich nicht, und Christian
fragte auch nicht danach, weil er wußte, daß seine
Mutter mit vielen ihrer Verwandten in Dänemark
korrespondierte.
Die arme Tante Sophie bemühte sich inzwischen
eifrig um Karin, der sie durchaus allein beim Um-
kleiden helfen wollte, weil Karins Jungfer aus-
gegangen sei.
„Ausgegangen — die Julie? Bei dem schlechten
Wetter?" wunderte sich Karin.
Julie war ebenso wie ihre Herrin ein verwöhntes
Stadtkind und haßte nasse Stiefel und Röcke.
Tante Fiekchen hoffte schon, ihren Zweck er-
reichen zu können. Ihre Hand fuhr in die Tasche,
in der der entwendete Brief wie eine Zentnerlast
lag, aber jedesmal, wenn sie ihn vorsichtig heraus-
ziehen wollte, wandte Karin mit irgend einer Bitte
den Kopf nach ihr herum uud vereitelte ihre Absicht.
Ihre fahrigen Bewegungen, die abgezirkelte Röte
auf ihrem Gesicht fielen Karin auch auf, aber ehe sie
noch eine Frage stellen konnte, stürmte Lisa ins
Zimmer.
„Hast du deinen Brief gefunden, Karin? Den
expressen Brief von deinem Vater?"
„Ein Brief von Papa?" Karin sprang wie elek-
trisiert von ihrem Stuhl auf. „Wo hast du ihn denn?"
„Er lag hier auf dem Tisch." Lisa trat an den
Tisch. „Wo ist er denn hingekommen? Hier habe
ich ihn doch groß und breit liegen sehen!"

Karin weinte fast vor Ungeduld. „Wo ist mein
Brief? Warum wird der mir nicht sofort gegeben?"
Sie nahm jedes einzelne Buch in die Höhe, schüttelte
die Decke aus — nichts! Sie war außer sich vor
Empörung und Enttäuschung.
„Kann jemand den Brief sortgenommen haben?
Mama sprach flüchtig davon, ihn dir selbst geben zu
wollen, weil sie irgend eine schlimme Nachricht be-
fürchtete," meinte Lisa nachdenklich.
„Was geht sie das an?" fuhr Karin auf. „Meinen
Brief will ich sofort haben. Kein Mensch hat ein
Recht, mir den vorzuenthalten und sich in meine
Angelegenheiten zu mischen."
„Nein gewiß nicht, Karin. Sei doch nur nicht
gleich so heftig," bat Tante Fiekchen mit zitternden
Lippen. „Ich werde einmal gründlich suchen. Der
Brief ist vielleicht hinuntergefallen. Lisa ist immer
so hastig."
Sie kroch auf der Erde herum, sah sogar unter
das Sofa. Leise zog sie dabei den Brief hervor und
schob ihn, wie sie hoffte unbemerkt, halb unter den
einen Tischfuß. „Hier — hier — seht ihr — da
liegt er wirklich!"
„Das heißt, Sie haben ihn soeben aus Ihrer
Tasche genommen und unter den Tisch geschoben!"
Karins scharfe Augen hatten das nicht sehr geschickt
ausgeführte Mauöver der alteu Dame im Spiegel
beobachtet.
„Ich — ich sollte — aber was hätte ich nur
für einen Grund?" Tante Fiekchens Mund zog
sich herunter wie bei einem Kind, das weinen will,
während Lisa starr vor Staunen Karins zornigen
und Tante Fiekchens angstvollen Gesichtsausdruck
beobachtete.
Karin riß der alten Dame den Brief aus der
Hand und besah ihn genau von allen Seiten. „Wer
sich fremde Briefe aneignet, der bringt es auch fertig,
sie zu erbrechen," stieß sie mit blassen Lippen her-
aus. „Merkwürdig unklar ist das Siegel ausgeprägt.
Vermutlich haben Sie diesen Brief gelesen, Fräulein
v. Webern?"
Karin brachte in diesem Augenblick keine ver-
trauliche Anrede mehr über die Lippen.
„Aber Karin, wie kannst du Tante Fiekchen so
etwas zutrauen!" Lisa trat zu der alteu Dame und
legte ihre Arme schützend um die kleine, vor Auf-
regung zitternde Gestalt.
„Ich habe Sie nie leiden mögen, Fräulein v. We-
bern!" fuhr Karin fort. Sie wußte in ihrer Em-
pörung kaum noch, was sie sagte. Ihr Zorn mußte
sich Luft machen. „Instinktiv mißtraute ich Ihnen
vom ersten Augenblick an. Man sagt, verwachsene
Menschen seien immer bösartig. Gehen Sie —
lassen Sie mich allein! Ich verbiete Ihnen, mein
Zimmer wieder zu betreten, meine Sachen zu durch-
wühlen, meine Briefe zu erbrechen!"
„Karin, mäßige dich!" fuhr Lisa dazwischen. „Wie
kannst du dich so gegen Tante Sophie benehmen!"
„Mag sie sich doch verteidigen! Aber sie sagt
kein Wort, keine Silbe — sie kann es auch nicht,
denn ich habe sie abgefaßt bei ihrem abscheulichen
Tun. Pfui, wie niedrig, wie häßlich! Arbeitet man
mit solchen Mitteln in Schleswig? Ihr hofft wohl,
irgend ein Staatsgeheimnis herauszuspionieren?"
Ganz erschöpft von ihrer eigenen Leidenschaft ließ
Karin sich in ihren Stuhl fallen. „Fort will ich so
schnell wie möglich!" schluchzte sie auf.
Das Eintreten der Jungfer ließ sie verstummen.
Julie war ganz atemlos. „Warum klingeln gnä-
dige Gräfin nur nicht? Die ganze Zeit sitze ich in
der Gesindestube und warte."
„Fräulein v. Webern sagte, Sie seien aus-
gegangen," entgegnete Karin mit spöttischer Verach-
tung. Sie drehte der alten Dame mit so absichtlicher
Unhöflichkeit den Rücken zu, daß Lisa die Hand der
Tante nahm und sie gewaltsam aus dem Zimmer zog.
Draußen vor der Tür blieb sie tiefatmend stehen.
„Tante Fiekchen!" Ihre Stimme klang heiser, wie
erwürgt von mühsam zurückgedrängten Tränen.
„Sage mir, bitte, daß Karin sich irrt. Ich will dir
glauben. Was solltest du denn mit dem Brief an-
gefangen haben? Bitte, sage schnell, daß Karin un-
gezogen und heftig war, daß sie falsch gesehen hat!"
In ihrer Aufregung packte sie den Arm der alten
Dame und schüttelte ihn. „Ich muß — ich will dir
glauben können — hörst du, Tante Fiekchen! —
So antworte doch endlich!"
Aber Tante Fiekchen blieb stumm. Kein Laut
kam über ihre blassen Lippen. Sie machte ihren
Arm von Lisas umklammernden Fingern los und
ging mit gesenktem Kopf in ihre Stube, die sie hinter
sich verschloß.
Zehnte Knsn'tal —
„Sie haben geweint?" Otto v. Rantzau sah teil-
nehmend in Lisas blasses Gesicht. Ihre Augen kamen
ihm matt und leicht gerötet vor. Bis jetzt hatte er
sie nie anders als strahlend und lachend gesehen.
 
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