18
DasBuchsürAlle
Heft 2
wozu Tante Amalie sich mit aller Huld und einem durch den
Vortrag lebhaft geweckten Appetit bereit erklärte.
„Lieber Sohn," sagte die Rentmeisterin, sich dem Oberforst-
meister nähernd, „ich hätte eine Bitte. Du weiht, ich bitte nie
für mich."
Das war unstreitig wahr. Sie baten immer eine für die
andere.
„Was ist, Mutter?" fragte er hastig, da Herr von Lure Miene
machte, sich ihm zuzuwenden.
„Die entsetzliche Zippelmann — ich weih nicht, wie diese
Person Zu der Verwandtschaft mit deiner angenehmen Frau
kommt. Nun, sie ist eben da. Amalie hat etwas versehen beim
Begießen der Blumen — kommt anderswo alle Tage vor. Es
soll ein Damenhut dabei beschädigt sein. Tante Amalie ist ganz
aufgelöst — achtzig Mark oder Klage. Ich kamsts ihr vor dem
Ersten nicht geben."
„Sprich doch nicht darüber, Mutter." Der Oberforstmeister
griff unbemerkbar in seine Tasche und legte das Geld in Frau
von Beerens Hand.
„Florian kommt morgen an," flüsterte sie schonungsvoll,
ihren Pompadour schließend.
„Zur Übernahme des Geschäfts?"
„Vermutlich."
Da trat Herr von Lure so nahe, daß die Rentmeisterin nur
noch leise sagen konnte: „Schone ihn, Otmar. Er verdient es."
Der Major, dem die Nolle des Grafen Dunois noch anhaftete
in der Art, wie er dem Neffen die Hand reichte, ließ sich von
diesem in die Fensternische geleiten, wo er das Familienereignis
anhörte, und zwar mit so starker innerer Erschütterung, daß ihm
vorerst die Stimmbänder den Dienst versagten.
„Ich will sehen, was sich tun läßt, Onkel Balduin," versicherte
der Oberforstmeister mit milder Schonung. „Ich werde nichts
scheuen."
Herr von Lure ward wieder er selbst. Sein Antlitz leuchtete
auf in einem Geistesblitz, der auch des Neffen finstere Züge
erhellte.
„Seid ihr denn sicher, daß dieser Florian dein - daß dieser
Florian auch wirklich ..."
„Allerdings," murmelte der Oberforstmeister, „das —"
„Das wäre aber doch die Hauptsache gewesen," sagte Herr
von Lure ziemlich ungnädig, da ihm der gehabte Schreck auf die
Magennerven gefallen war und man eben die Tür nach dem
Speisezimmer sich öffnen sah. „Beeren gibt's auch anderwärts."
Er war nie völlig damit einverstanden gewesen, daß eine
Lu.re einen Beeren heiratete, und dieses geheime Mißvergnügen
klang durch seine letzten Worte.
Der Oberforstmeister schnitt ein verdrießliches Gesicht.
„Allerdings. Aber ..."
„Ich bin", fiel der Major ein, „neben dem Onkel Balduin
auch der Major von Lure. Damit wird sich Herr Florian ab-
zufinden haben."
„Darf ich bitten, Onkel Balduin," sagte Frau Agathe mit
besorgtem Lächeln.
Augenblicklich reichte er ihr den Arm. „Immer zu Diensten!"
Ihr brannte diese gemessene Höflichkeit in der Seele. „Wir
sind verzweifelt, Onkel Balduin. Ich glaubte in die Erde zu
sinken."
„Ungeratene Söhne schickt man beizeiten übers Wasser,"
sagte er im Fortschreiten.
„Aber wenn sie selbst — gehen, wie soll man sie schicken?"
„Damit sie den Eltern und der Familie keine Schande
machen," fuhr er fort, keinen Einwand als berechtigt gelten
lassend. „Der alte Rentmeister von Beeren hätte diesem ent-
arteten Jungen nicht die Freiheit lassen dürfen, davonzulaufen.
Gehorsam scheint er nicht gekannt zu haben. Mir sollte ein Sohn
so kommen!"
„Ach, Onkel Balduin," klagte Frau Agathe, „du weißt nicht,
was ein Sohn den Eltern ist." Und ihr Blick ruhte auf der Tafel-
stelle, wo das Gedeck für ihren Sohn verschwunden war. „Du mußt
Otmar entschuldigen, Jngermanns haben ihn mitgenommen."
Es hätte recht gemütlich sein können unter der Hängelampe,
die über die kleine Tafelrunde ihr weißes Licht verstreute, wenn
nicht der Schatten Florians die Unterhaltung verdüstert Hütte.
Herbert von Salberg hatte seinen Platz Zwischen den beiden
Töchtern des Hauses. Er war durch die Bekanntschaft mit Otmar
häufiger als andere in das Beerensche Haus gekommen, und
sein Beitritt zum Lesekränzchen entsprang dem Bedürfnis nach
Familienverkehr.
Alles Laute, Lärmende stieß ihn zurück, nie fühlte er sich
vereinsamter als unter der großen Menge. Und diese Menge,
die ihm nichts gab und sagte, interessierte sich für ihn, während
sie ihn mit ihrer Verworrenheit belästigte.
Herr von Jngermann nannte ihn den Befähigtsten unter seinen
jüngeren Untergebenen, aber auch zugleich den Verschlossensten
und Zurückhaltendsten. Die Kollegen schätzten ihn hoch, Familien-
väter rühmten seine Solidität, die Mütter schätzten ihn seines
Vermögens und seiner Unabhängigkeit wegen, und nicht zuletzt
war es seine angenehme Erscheinung, die ihn zum begehrens-
werten Freier für unvergebene Töchter machte. Aber die jungen
Mädchen fanden ihn langweilig und steif.
Er fühlte selbst, daß er ihnen nichts zu sagen hatte. Leider-
war er auch kein Tänzer. Er saß meist weitab und schaute in
das bunte Treiben, wie er als Kind auf die Bilder seiner Zauber-
laterne gesehen. In ihm war ein ständiges Suchen und Sehnen,
das selbst heitere Augenblicke verschleierten. Und wie er nie flott
gelebt hatte, hatte er auch nie geliebt. Mit dieser Herzensruhe
war er auch Hanna von Beeren entgegengetreten, der „Eisbeere",
wie seine Kollegen die herbe Schönheit des Mädchens bewitzelten.
Neben Haides sonniger Heiterkeit erschien ihm ihre Haltung
zu beabsichtigt und berechnet, und wie alles Erkünstelte wirkte
auch diese Art peinlich und beklemmend auf ihn.
Sie schenkte ihm ebensoviel und sowenig Beachtung wie
allen andern, bis sie den leidenden Zug gewahrte, der mitten
in gleichgültigen Gesprächen sein Jnsichselbstverlorensein verriet.
Da ward eine Regung der Sympathie in ihr wach — und damit
schwand die Gleichgültigkeit gegen ihn für immer dahin.
Tante Amalie, in der doppelten Zuversicht, nicht vor den
Richter zu kommen und den Zippelmannschen Bodenschlüssel
für Vertuns auf keinen Fall herauszugeben, hatte die Tisch-
unterhaltung fast ganz allein bestritten, bis die Rentmeisterin
ihrer Schwiegertochter ein Zeichen gab, die Tafel aufzuheben.
Während sich der Oberforstmeister, seine Mutter und Gattin
nebst Herrn von Lure zu einer Partie Whist niederließen, ging
Tante Amalie als Anstands- und Ehrendame oder, wie Haide
sagte, „als Vergnügungsscheuche" mit den jungen Leuten in den
Salon zurück, wo Haide sich vor den Flügel setzte und zu spielen
begann.
Es war eine vollendete Kunst Tante Amaliens, nach dem
Essen hinter einem Buche oder Album unbemerkt ein Nickerchen
zu machen, und so blieben Herr von Salberg und Hanna bald
auf sich allein angewiesen.
Er überhörte das Klavierspiel und wandte sich ihr mit tiefem
Ernst zu. „Ich fand noch keine Gelegenheit, Ihnen für den Genuß
zu danken, den Ihr Vortrag mir heute geschenkt hat."
„Ich sprach doch nur ganz natürlich," sagte sie ablehnend.
„Eine Corel kann nicht anders sprechen, oder sie würde keine
Agnes Corel sein."
„Wenn—-" Er stockte. Der ruhige Blick ihrer braunen Augen,
die "so glänzten und unter langen, dunklen Wimpern vorzeitig
ernst ins Leben schauten, trugen Schuld daran. Wie durfte er
ihr sagen, daß er ihrer Unnahbarkeit diese quellenden Herzens-
töne nie zugetraut?
Sie beugte sich ein wenig vor. „Was — wenn?"
Ihn beschäftigte der Widerspruch noch, als sie lächelnd wieder-
holte. „Was — wenn?"
„Verzeihen Sie," sagte er nicht ohne Beschämung über seine
Unhöflichkeit, „ich bin ein so zerstreuter Mensch, ein Sklave
meiner Stimmungen und Gedanken. Sie stellen mich immer
vor Probleme, die zu lösen sie mich anreizen. Ich konnte", fuhr
er ablenkend fort, „nie begreifen, wie jemand in etwas wirksam
DasBuchsürAlle
Heft 2
wozu Tante Amalie sich mit aller Huld und einem durch den
Vortrag lebhaft geweckten Appetit bereit erklärte.
„Lieber Sohn," sagte die Rentmeisterin, sich dem Oberforst-
meister nähernd, „ich hätte eine Bitte. Du weiht, ich bitte nie
für mich."
Das war unstreitig wahr. Sie baten immer eine für die
andere.
„Was ist, Mutter?" fragte er hastig, da Herr von Lure Miene
machte, sich ihm zuzuwenden.
„Die entsetzliche Zippelmann — ich weih nicht, wie diese
Person Zu der Verwandtschaft mit deiner angenehmen Frau
kommt. Nun, sie ist eben da. Amalie hat etwas versehen beim
Begießen der Blumen — kommt anderswo alle Tage vor. Es
soll ein Damenhut dabei beschädigt sein. Tante Amalie ist ganz
aufgelöst — achtzig Mark oder Klage. Ich kamsts ihr vor dem
Ersten nicht geben."
„Sprich doch nicht darüber, Mutter." Der Oberforstmeister
griff unbemerkbar in seine Tasche und legte das Geld in Frau
von Beerens Hand.
„Florian kommt morgen an," flüsterte sie schonungsvoll,
ihren Pompadour schließend.
„Zur Übernahme des Geschäfts?"
„Vermutlich."
Da trat Herr von Lure so nahe, daß die Rentmeisterin nur
noch leise sagen konnte: „Schone ihn, Otmar. Er verdient es."
Der Major, dem die Nolle des Grafen Dunois noch anhaftete
in der Art, wie er dem Neffen die Hand reichte, ließ sich von
diesem in die Fensternische geleiten, wo er das Familienereignis
anhörte, und zwar mit so starker innerer Erschütterung, daß ihm
vorerst die Stimmbänder den Dienst versagten.
„Ich will sehen, was sich tun läßt, Onkel Balduin," versicherte
der Oberforstmeister mit milder Schonung. „Ich werde nichts
scheuen."
Herr von Lure ward wieder er selbst. Sein Antlitz leuchtete
auf in einem Geistesblitz, der auch des Neffen finstere Züge
erhellte.
„Seid ihr denn sicher, daß dieser Florian dein - daß dieser
Florian auch wirklich ..."
„Allerdings," murmelte der Oberforstmeister, „das —"
„Das wäre aber doch die Hauptsache gewesen," sagte Herr
von Lure ziemlich ungnädig, da ihm der gehabte Schreck auf die
Magennerven gefallen war und man eben die Tür nach dem
Speisezimmer sich öffnen sah. „Beeren gibt's auch anderwärts."
Er war nie völlig damit einverstanden gewesen, daß eine
Lu.re einen Beeren heiratete, und dieses geheime Mißvergnügen
klang durch seine letzten Worte.
Der Oberforstmeister schnitt ein verdrießliches Gesicht.
„Allerdings. Aber ..."
„Ich bin", fiel der Major ein, „neben dem Onkel Balduin
auch der Major von Lure. Damit wird sich Herr Florian ab-
zufinden haben."
„Darf ich bitten, Onkel Balduin," sagte Frau Agathe mit
besorgtem Lächeln.
Augenblicklich reichte er ihr den Arm. „Immer zu Diensten!"
Ihr brannte diese gemessene Höflichkeit in der Seele. „Wir
sind verzweifelt, Onkel Balduin. Ich glaubte in die Erde zu
sinken."
„Ungeratene Söhne schickt man beizeiten übers Wasser,"
sagte er im Fortschreiten.
„Aber wenn sie selbst — gehen, wie soll man sie schicken?"
„Damit sie den Eltern und der Familie keine Schande
machen," fuhr er fort, keinen Einwand als berechtigt gelten
lassend. „Der alte Rentmeister von Beeren hätte diesem ent-
arteten Jungen nicht die Freiheit lassen dürfen, davonzulaufen.
Gehorsam scheint er nicht gekannt zu haben. Mir sollte ein Sohn
so kommen!"
„Ach, Onkel Balduin," klagte Frau Agathe, „du weißt nicht,
was ein Sohn den Eltern ist." Und ihr Blick ruhte auf der Tafel-
stelle, wo das Gedeck für ihren Sohn verschwunden war. „Du mußt
Otmar entschuldigen, Jngermanns haben ihn mitgenommen."
Es hätte recht gemütlich sein können unter der Hängelampe,
die über die kleine Tafelrunde ihr weißes Licht verstreute, wenn
nicht der Schatten Florians die Unterhaltung verdüstert Hütte.
Herbert von Salberg hatte seinen Platz Zwischen den beiden
Töchtern des Hauses. Er war durch die Bekanntschaft mit Otmar
häufiger als andere in das Beerensche Haus gekommen, und
sein Beitritt zum Lesekränzchen entsprang dem Bedürfnis nach
Familienverkehr.
Alles Laute, Lärmende stieß ihn zurück, nie fühlte er sich
vereinsamter als unter der großen Menge. Und diese Menge,
die ihm nichts gab und sagte, interessierte sich für ihn, während
sie ihn mit ihrer Verworrenheit belästigte.
Herr von Jngermann nannte ihn den Befähigtsten unter seinen
jüngeren Untergebenen, aber auch zugleich den Verschlossensten
und Zurückhaltendsten. Die Kollegen schätzten ihn hoch, Familien-
väter rühmten seine Solidität, die Mütter schätzten ihn seines
Vermögens und seiner Unabhängigkeit wegen, und nicht zuletzt
war es seine angenehme Erscheinung, die ihn zum begehrens-
werten Freier für unvergebene Töchter machte. Aber die jungen
Mädchen fanden ihn langweilig und steif.
Er fühlte selbst, daß er ihnen nichts zu sagen hatte. Leider-
war er auch kein Tänzer. Er saß meist weitab und schaute in
das bunte Treiben, wie er als Kind auf die Bilder seiner Zauber-
laterne gesehen. In ihm war ein ständiges Suchen und Sehnen,
das selbst heitere Augenblicke verschleierten. Und wie er nie flott
gelebt hatte, hatte er auch nie geliebt. Mit dieser Herzensruhe
war er auch Hanna von Beeren entgegengetreten, der „Eisbeere",
wie seine Kollegen die herbe Schönheit des Mädchens bewitzelten.
Neben Haides sonniger Heiterkeit erschien ihm ihre Haltung
zu beabsichtigt und berechnet, und wie alles Erkünstelte wirkte
auch diese Art peinlich und beklemmend auf ihn.
Sie schenkte ihm ebensoviel und sowenig Beachtung wie
allen andern, bis sie den leidenden Zug gewahrte, der mitten
in gleichgültigen Gesprächen sein Jnsichselbstverlorensein verriet.
Da ward eine Regung der Sympathie in ihr wach — und damit
schwand die Gleichgültigkeit gegen ihn für immer dahin.
Tante Amalie, in der doppelten Zuversicht, nicht vor den
Richter zu kommen und den Zippelmannschen Bodenschlüssel
für Vertuns auf keinen Fall herauszugeben, hatte die Tisch-
unterhaltung fast ganz allein bestritten, bis die Rentmeisterin
ihrer Schwiegertochter ein Zeichen gab, die Tafel aufzuheben.
Während sich der Oberforstmeister, seine Mutter und Gattin
nebst Herrn von Lure zu einer Partie Whist niederließen, ging
Tante Amalie als Anstands- und Ehrendame oder, wie Haide
sagte, „als Vergnügungsscheuche" mit den jungen Leuten in den
Salon zurück, wo Haide sich vor den Flügel setzte und zu spielen
begann.
Es war eine vollendete Kunst Tante Amaliens, nach dem
Essen hinter einem Buche oder Album unbemerkt ein Nickerchen
zu machen, und so blieben Herr von Salberg und Hanna bald
auf sich allein angewiesen.
Er überhörte das Klavierspiel und wandte sich ihr mit tiefem
Ernst zu. „Ich fand noch keine Gelegenheit, Ihnen für den Genuß
zu danken, den Ihr Vortrag mir heute geschenkt hat."
„Ich sprach doch nur ganz natürlich," sagte sie ablehnend.
„Eine Corel kann nicht anders sprechen, oder sie würde keine
Agnes Corel sein."
„Wenn—-" Er stockte. Der ruhige Blick ihrer braunen Augen,
die "so glänzten und unter langen, dunklen Wimpern vorzeitig
ernst ins Leben schauten, trugen Schuld daran. Wie durfte er
ihr sagen, daß er ihrer Unnahbarkeit diese quellenden Herzens-
töne nie zugetraut?
Sie beugte sich ein wenig vor. „Was — wenn?"
Ihn beschäftigte der Widerspruch noch, als sie lächelnd wieder-
holte. „Was — wenn?"
„Verzeihen Sie," sagte er nicht ohne Beschämung über seine
Unhöflichkeit, „ich bin ein so zerstreuter Mensch, ein Sklave
meiner Stimmungen und Gedanken. Sie stellen mich immer
vor Probleme, die zu lösen sie mich anreizen. Ich konnte", fuhr
er ablenkend fort, „nie begreifen, wie jemand in etwas wirksam