Das Büch MAL
Hefts. IllustrierteKmiliMMtung -1421
Die von Beeren.
Roman von Georg Hartwig (Emmy Koeppel).
(Fortsetzung.)
eit Otmar nicht mehr bei seinen Eltern wohnte, schien der
Oberforstmeisterin die Stille zuweilen auffallend; be-
sonders wenn Haide bei Freundinnen eingeladen war
oder in die Musikstunde gehen mußte, war es so ruhig, daß sie
manchmal in Hannas Zimmer nachsah, ob ihre Tochter nicht
schlief oder ausgegangen sei. Und immer bot sich der über-
raschten Mutter der gleiche Anblick: Hanna saß vor ihrem kleinen
Tischchen und las in einem Buch. Und es waren meist Bücher,
die der Oberforstmeisterin gar nicht gefallen wollten. Nie be-
stundenlang nicht gerührt. Da klopfte die Oberforstmeisterin an
ihre Tür, öffnete sie halb und rief hinein: „Willst du denn ganz
versauern? Kein vernünftiges Wort hört man von dir! Ich weiß
gar nicht, von wem du diese unangenehme Art hast, andere
fühlen zu lassen, daß sie dir nicht genügen. Wenn du schon nicht
reden willst, so könntest du doch an die Luft gehen. Du siehst,
weiß Gott, nicht so aus, als ob du auch das nicht nötig hättest."
Ruhig erwiderte Hanna, ihr Buch zuklappend: „Wenn du
ausgehen willst, ich bin gerne bereit."
„Ich habe genug zu tun, mir fehlt es nicht an Arbeit, ich denke
nicht daran, auszugehen, aber du ..."
„Ich bitte dich, Mutter, laß mich doch so leben, wie es mir-
recht scheint."
„Gut, daß du sagst ,scheinL! Denn recht ist es nicht, das darfst
schäftigte sich das sonderbare Mädchen mit Romanen oder an-
deren leichteren Schriften; die Bücher, die sie las, stammten aus
einer Bibliothek, von der die Mutter lange nicht gewußt hatte,
daß es so etwas überhaupt gab; sie trugen auf der Titelseite den
Stempel: „Volksbücherei". Wenn Hanna auch früher nicht be-
sonders mitteilsam gewesen war, so sprach sie doch seit einiger Zeit
so wenig und benahm sich so merkwürdig zurückhaltend, daß es
fast verletzend wirkte. Wäre der leidende Zug in ihrem Gesicht
nicht gewesen, die besorgte Mutter hätte ihr tägliche Vorwürfe
kaum erspart. Aber das seltsame war, daß kein Mensch begreifen
konnte, weshalb Hanna sich so auffallend zurückzog. Auch mit
dem Vater sprach sie nur wenig, und wenn Tante Amalie oder
du mir glauben. Habe ich denn nicht genug Sorgen, daß du mir
so wenig Freude machst? Im Haushalt willst du mir nicht mehr
beistehen, als du gerade nicht vermeiden kannst, und ich begreife
nicht, wozu du deine Zeit an Bücher hängst, die dir doch gar nichts
nützen können."
„Ja, ich weiß," erwiderte das Mädchen fast unhörbar. „Ich
bin nicht, wie ich sein sollte. Ich bin nichts, gar nichts. Ich leide
schweigend. Und auch das ist unrecht." Tränen liefen ihr über
die Wangen.
„Nun weinst du wieder. Du wirst noch vor der Zeit alt und
garstig. Wenn ich doch nur begreifen könnte, weshalb ich so ge-
straft werde. Ich habe doch alles getan, was eine Mutter vermag.
Otmar erschien,
fand sie immer
einen Vorwand,
sich der Gesellig-
keit auch im klei-
nen Kreis zu ent-
ziehen. Die Mut-
ter ließ es an
mahnenden Wor-
ten nicht fehlen;
aber so oft sie ver-
suchte, der Toch-
ter klarzumachen,
daß sie sich mit
ihrer zurückhal-
tenden und ab-
wehrenden Art
nie Freunde er-
werbenkönne, be-
rührte sie der ge-
quälte Ausdruck in
dem für ihre Jahre
zu ernsten Gesicht
so unangenehm,
daß sie oft mitten
im Satz abbrach
oder, in verdrieß-
liche Stimmung
geratend, mehr-
sagte, als sie
eigentlich wollte.
So hatte sich
auch heute Hanna
Die Bitte an den Weihnachtsmann. Nach einem Gemälde von L. Dboma.
Otmar macht mir
Sorgen, aber er
ist wenigstens nicht
unfreundlich, und
wenn er in jugend-
licher Unbedacht-
heit zu viel Zeit
mit fremden Leu-
ten verbringt, so
kann man doch
verstehen, warum
er das tut. Es
hilft ihm zu sei-
nem Fortkommen.
Aber du! Deine
ganze Art ist mir-
fremd. Deine Zu-
rückhaltung ist un-
weiblich und krän-
kend. Du hast kein
Vertrauen zu den
Deinen und denkst
nur an dich. Und
dabei sorgst du
doch schlecht für
dich selber. Leider
fühlt Vater nichts
davon. Er bemerkt
ja kaum, daß du
dich immer mehr
vonuns entfernst."
Hanna blickte
die Mutter ernst,
8. 1921.
Hefts. IllustrierteKmiliMMtung -1421
Die von Beeren.
Roman von Georg Hartwig (Emmy Koeppel).
(Fortsetzung.)
eit Otmar nicht mehr bei seinen Eltern wohnte, schien der
Oberforstmeisterin die Stille zuweilen auffallend; be-
sonders wenn Haide bei Freundinnen eingeladen war
oder in die Musikstunde gehen mußte, war es so ruhig, daß sie
manchmal in Hannas Zimmer nachsah, ob ihre Tochter nicht
schlief oder ausgegangen sei. Und immer bot sich der über-
raschten Mutter der gleiche Anblick: Hanna saß vor ihrem kleinen
Tischchen und las in einem Buch. Und es waren meist Bücher,
die der Oberforstmeisterin gar nicht gefallen wollten. Nie be-
stundenlang nicht gerührt. Da klopfte die Oberforstmeisterin an
ihre Tür, öffnete sie halb und rief hinein: „Willst du denn ganz
versauern? Kein vernünftiges Wort hört man von dir! Ich weiß
gar nicht, von wem du diese unangenehme Art hast, andere
fühlen zu lassen, daß sie dir nicht genügen. Wenn du schon nicht
reden willst, so könntest du doch an die Luft gehen. Du siehst,
weiß Gott, nicht so aus, als ob du auch das nicht nötig hättest."
Ruhig erwiderte Hanna, ihr Buch zuklappend: „Wenn du
ausgehen willst, ich bin gerne bereit."
„Ich habe genug zu tun, mir fehlt es nicht an Arbeit, ich denke
nicht daran, auszugehen, aber du ..."
„Ich bitte dich, Mutter, laß mich doch so leben, wie es mir-
recht scheint."
„Gut, daß du sagst ,scheinL! Denn recht ist es nicht, das darfst
schäftigte sich das sonderbare Mädchen mit Romanen oder an-
deren leichteren Schriften; die Bücher, die sie las, stammten aus
einer Bibliothek, von der die Mutter lange nicht gewußt hatte,
daß es so etwas überhaupt gab; sie trugen auf der Titelseite den
Stempel: „Volksbücherei". Wenn Hanna auch früher nicht be-
sonders mitteilsam gewesen war, so sprach sie doch seit einiger Zeit
so wenig und benahm sich so merkwürdig zurückhaltend, daß es
fast verletzend wirkte. Wäre der leidende Zug in ihrem Gesicht
nicht gewesen, die besorgte Mutter hätte ihr tägliche Vorwürfe
kaum erspart. Aber das seltsame war, daß kein Mensch begreifen
konnte, weshalb Hanna sich so auffallend zurückzog. Auch mit
dem Vater sprach sie nur wenig, und wenn Tante Amalie oder
du mir glauben. Habe ich denn nicht genug Sorgen, daß du mir
so wenig Freude machst? Im Haushalt willst du mir nicht mehr
beistehen, als du gerade nicht vermeiden kannst, und ich begreife
nicht, wozu du deine Zeit an Bücher hängst, die dir doch gar nichts
nützen können."
„Ja, ich weiß," erwiderte das Mädchen fast unhörbar. „Ich
bin nicht, wie ich sein sollte. Ich bin nichts, gar nichts. Ich leide
schweigend. Und auch das ist unrecht." Tränen liefen ihr über
die Wangen.
„Nun weinst du wieder. Du wirst noch vor der Zeit alt und
garstig. Wenn ich doch nur begreifen könnte, weshalb ich so ge-
straft werde. Ich habe doch alles getan, was eine Mutter vermag.
Otmar erschien,
fand sie immer
einen Vorwand,
sich der Gesellig-
keit auch im klei-
nen Kreis zu ent-
ziehen. Die Mut-
ter ließ es an
mahnenden Wor-
ten nicht fehlen;
aber so oft sie ver-
suchte, der Toch-
ter klarzumachen,
daß sie sich mit
ihrer zurückhal-
tenden und ab-
wehrenden Art
nie Freunde er-
werbenkönne, be-
rührte sie der ge-
quälte Ausdruck in
dem für ihre Jahre
zu ernsten Gesicht
so unangenehm,
daß sie oft mitten
im Satz abbrach
oder, in verdrieß-
liche Stimmung
geratend, mehr-
sagte, als sie
eigentlich wollte.
So hatte sich
auch heute Hanna
Die Bitte an den Weihnachtsmann. Nach einem Gemälde von L. Dboma.
Otmar macht mir
Sorgen, aber er
ist wenigstens nicht
unfreundlich, und
wenn er in jugend-
licher Unbedacht-
heit zu viel Zeit
mit fremden Leu-
ten verbringt, so
kann man doch
verstehen, warum
er das tut. Es
hilft ihm zu sei-
nem Fortkommen.
Aber du! Deine
ganze Art ist mir-
fremd. Deine Zu-
rückhaltung ist un-
weiblich und krän-
kend. Du hast kein
Vertrauen zu den
Deinen und denkst
nur an dich. Und
dabei sorgst du
doch schlecht für
dich selber. Leider
fühlt Vater nichts
davon. Er bemerkt
ja kaum, daß du
dich immer mehr
vonuns entfernst."
Hanna blickte
die Mutter ernst,
8. 1921.