Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
Heft 6 DasVuchfüvAlle 83

Leute/ Aber Herr von
Salberg geht leider
vorbei. Er scheint uns
wohl nicht zu bemer-
ken."
Marie Beerenfühl-
te ihr Herz pochen,
denn nun schritt Sal-
berg vorüber und zog
den Hut. Sie sah ihn
nicht, denn sie blickte
Hanna an, die flüchtig
errötete, als der junge
Mann grüßte.
Dann reichte Hanna
ihr die Hand. „Haide
will noch einen klei-
nen Dauerlauf machen.
Zum Kaffee wollen
wir wieder daheim sein.
Auf Wiedersehen."
Marie reichte bei-
den die Hand zum Ab-
schied. Haide klopfte
Tante Zippelmann freundschaftlich den Arm. „Mußt mal wieder-
kommen, Tante. Hörst du? Bei uns isLs langweilig. Und wenn
du kommst, gibÜs doch ein bißchen was zu lachen. Lekü wohl,
Cousine Marie! Laßt euch den Kaffee gut schmecken."
Dann trennten sie sich und gingen verschiedene Wege.
Im Weiterschreiten bemerkte Hanna im Ton leichten Vor-
wurfs: „Du kannst doch nie unterlassen, Bemerkungen zu machen,
die sich nicht schicken. Langweilig sei es bei uns; das brauchtest
du doch nicht zu sagen."
„Aber es ist doch wahr. Oder nicht? Uber Onkel Balduins
Geschichten kann doch nur er noch lachen, er hat sie doch schon
tausendmal erzählt. Ach, und das Kartenspiel! Zum Davon-
laufen! Manchmal möchte ich aus der Haut fahren."
„Meinetwegen. Wenn du dir auch die Ausdrücke sparen

wenn er unter seines-
gleichen ist, weiß er
nichts mehr davon. Ja,
so ist das. — Du srierst
wohl, Kleine? Jstdir's
ein bißchen zu frisch?"
„Nein. Mir ist gar
nicht kalt." Bei den
Worten Mika Zippel-
manns empfand sie
Gewissensbisse. Nur
einen Augenblick war
ihrvorhinso seltsamzu-
mute gewesen. Wenn
auch nur flüchtig, hatte
sie doch sehnsüchtig ge-
wünscht, vondiesen an-
deren beachte t zu wer-
den, zu ihnen gehören
zu dürfen, die auf ihres
Vaters Stand gering-
schätzig hinabsahen.
Schweigend ging
sie heimwärts.
Und als müßte sie diese Verirrung abbitten, legte sie, zu Hause
angekommen, weder Mantel noch Hut ab, lief zu ihrem Vater
und begrüßte ihn herzlicher noch, als es sonst ihre Art war.
„Freust du dich so, daß du wieder da bist, kleines Miezeken?"
sagte Florian Beeren. „Mutter hat auch was Gutes zum Kaffee
besorgt. Und du wirst uns dann wieder mal was Hübsches vor-
lesen. Am Sonntag isLs doch daheim am schönsten, wenn man
sich die ganze Woche geschunden hat. Da sitzt man gerne still und
denkt sich allerlei, wozu einein sonst keine Zeit bleibt. Wenn's
draußen kalt ist und der Ofen hübsch wärmt, isLs noch einmal
so gemütlich in der warmen Stube. Aber nun zieh dich mal
erst aus. Ich rieche schon den frischen Kaffee, und der Kuchen
scheint heute ganz besonders gut geraten. Und Neinhold höre
ich auch schon." -->-

Phot. Photothek, Berlin.
Berliner Holzsammler im Grünewald.


könntest. Vor anderen Leuten muß
man nicht alles aussprechen, was
einem durch den Kopf geht."
„Ach, nun hältst du mir auch noch
Standpauken! Ihr seid alle gleich
entsetzlich." Haide machte ein Mäul-
chen und ging, die Gekränkte spie-
lend, weiter.

(D^rau Zippelmann schaute den
O Schwestern noch eine Weile nach.
Dann fragte sie: „Miezelchen, hast
du den Herrn wiedererkannt? Weißt
du, wer das gewesen ist?"
„Ja. Herr von Salberg," sagte
sie leise.
„Der sieht auch aus, als ob er
alle möglichen Gebresten hätte. Ver-
stehe gar nicht, was das für jnnge
Leute sind. Nee, solche Augen! Ach
herrje! Der hält sich auch für üie
besondere Edeltanne. Wunderliche
Menschen gibUs in unseres Herrgotts
großem Tiergarten. Immer einer-
schöner als der andere. Wie hoch
kann ein Mensch doch die Nase tra-
gen; man soll's wahrhaftig nicht für-
möglich halten. Weißt du, mit der
Liebenswürdigkeit von solchen Her-
ren, damit ist's auch nicht allzu weit
her. Ich hab's wohl gesehen, wie er
im Theater geschwätzt hat. Aber

phol. Atlantic Photo Co., Berlin.


Der schwäbische Dichter Lasar Flaischlen f.

Oi) ängst war die Novembersonne in
-^der Dämmerung versunken. Tief
im Westen erlosch langsam ein mat-
tes Not am Horizont. Die Mond-
sichel stand schmal und dünn am
Himmel. Salberg wanderte auf
einem der entlegenen stillen Feld-
wege in die Stadt zurück. Mit kei-
nem Gedanken erinnerte er sich des
jungen Mädchens, das neben ihm
im Theater gesessen war und ihn
heute wiedergesehen hatte. Nur an
Hanna dachte er, die ihn so sonder-
bar, wenn auch nur flüchtig, betrach-
tet hatte, als er grüßend vorbeige-
schritten war. Vielleicht glaubte er-
setzt nur, einen stillen Vorwurf in
ihren Augen beobachtet zu haben,
weil er mit sich unzufrieden war
wie immer. Wenn er den Ausdruck
ihres Gesichtes richtig beurteilte,
dann war diesmal ein Zug leiser
Abwehr darin gelegen. Ein be-
schämendes Gefühl drückte ihn nieder,
als er dies dachte. Wenn er sich
nicht täuschte, so mußte er sich doch
sagen, daß sie ein Recht besaß, sich
so zu benehmen. Was war er doch
auch für ein unglückseliges Wesen;
an nichts nahm er Anteil, kein Trieb
belebte sein unentschlossenes, ewig
zauderndes und zögerndes Wesen.
 
Annotationen