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Hest 36

ines hatte der Japaner mit seinen mysteriösen Reden aber
doch erreicht. Ella erwog ernstlich, ob sie Tante Mia bei
ihren Ausgängen folgen sollte. Aus dein tiefen Eindruck, den
seine Worte auf die Pensionäre gemacht, ging hervor, daß er
ungewöhnlichen Scharfblick besah, denn sonst Hütte er doch
nicht überall mit solcher Sicherheit den wunden Punkt treffen
können. Schien es unter diesen Umstünden nicht wirklich geraten,
seiner Weisung zu gehorchen?
Sie hielt sich vor, daß es ihrer unwürdig sei, zu spionieren;
aber als sie am nächsten Tage zur gewohnten Zeit die Schritte des

links; aber nachdem ein besonders heftiger Windstoß ihn beinahe
umgekehrt hätte, schloß sie ihn und humpelte, Schirm und Stock
gleichzeitig als Stütze benutzend und vorsichtig die Füße auf-
setzend, um auf dem glatten Boden nicht auszugleiten, weiter.
Bald war sie vom Schnee umhüllt. Vorübergehende blickten mit-
leidig der hinfälligen alten Dame nach, die sich durch das Un-
wetter hindurchkümpfte. „Wahrscheinlich ist sie zu arm, um sich
ein Trambahnbillett zu kaufen," dachte mancher.
Ella wurde es beklommen zumute, und ein paarmal war sie
nahe daran, zur Tante zu eilen, um sie zu führen; aber dann


Eine Frage an das Schicksal. Nach eurem Gemälde von Beruh. AUnter.


lahmen alten Fräuleins auf der Treppe hörte, da stand sie den-
noch zum Ausgehen angezogen da, bereit, ihr zu folgen.
Draußen schneite es stark, und Ellas erster Gedanke, als
sie aus dem Hause trat, war, die Tante möchte — was ihr die
Ausführung ihres eigenen Unternehmens nahezu unmöglich ge-
macht haben würde — mit der Trambahn fahren; indes erwies
sich diese Befürchtung als grundlos. Die alte Dame ging, ihren
baumwollenen Regenschirm aufspannend und in der linken Hand
haltend, während sie sich mit der rechten auf ihren Stock stützte,
die Mariahilferstraße, in der die Pension Hattas lag, entlang, um
dann über den Getreidemarkt und Opernplatz ihren Weg nach
dein Neumarkt zu nehmen. Ella mäßigte ihren Schritt, um immer
in gemessener Entfernung hinter ihr zu bleiben. Dem Schneefall
gesellte sich Wind, der namentlich auf den Plätzen so stark wehte,
daß die Leute sich die Hüte festhalten mußten, damit sie ihnen
nicht von den Köpfen gerissen würden. Die Tante vermochte
ihren Schirm nicht zu halten, sie balancierte ihn nach rechts und

sagte sie sich, daß diese sicher erschrecken würde, wem: sie erfuhr,
daß man ihr nachspürte.
Jetzt war Tante Mia auf dem Stephansplatz angelangt. Das
Gesicht mit der Hand beschattend, um nicht den Schnee in die
Augen zu bekommen, blickte sie um sich und ging dann in einen
Laden, in dem Pfefferkuchen, geweihte Kerzen und Heiligenbild-
chen feilgehalten wurden. Ella sah von draußen, wie sie sich eine
Kerze geben ließ, und eilte, ohne abzuwarten, daß jene das Haus
verließ, in die Kirche, wo sie sich in eines der hohen eichenen Ge-
stühls setzte. Wußte sie doch jetzt, daß das Gotteshaus der Tante
Ziel war. Die Leute kauften jene Kerzen, um sie der Mutter-
gottes zu weihen. Sie steckten sie auf die Stacheln einer zur Seite
des Marienbildes befindlichen Pyramide und sprachen im stillen
eine Bitte, hoffend, daß die Gnadenmutter sie erfüllen würde.
Ellas Platz war gerade gegenüber der Lichterpyramide, sie konnte
von ihm aus, verborgen hinter den hohen Lehnen des Gestühls,
genau beobachten, was um das Marienbild herum vorging.
 
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