Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
M8

DasBuchfürAlle

Heft 36

DasBuchfürAlle

tzest 36

^09

Der hohe gewölbte Raum lag in ungewissem Dämmerlicht.
Durch die Glasmalerei der Bogenfenster fiel ein matter Schein
des sinkenden Tageslichtes, viel zu matt, um den mächtigen Dom
zu erhellen. Doch die Heiligenbilder auf den Glasgemälden leuch-
teten und funkelten wie bunte Edelsteine. Zuerst vermochten
Ellas vom Schnee geblendete Augen nichts deutlich zu unter-
scheiden, dann aber gewöhnten sie sich an das Halbdunkel, uno sie
sah die um die fast einem Christbaum gleichende Pyramide knien-
den Gestalten. Und nun bemerkte sie auch die Tante unter ihnen.
Die Hände über der Brust gefaltet, das Gesicht fast bis zur Erde
geneigt, kauerte sie am Boden, ab und zu den Kopf erhebend»,
um ihre Kerze zu betrachten, wie es der Brauch verlangte. Ihre
AugeU und Wangen waren nah von Tränen, und ihre Lippen
bewegten sich, leise Gebete murmelnd, unablässig.
Was mochte sie von der Heiligen erbitten?
Am Hochaltar waren zwei riesige Kerzen aufgeflammt. Es
wurde Rosengottesdienst gehalten. „Maria, du Gebenedeite!"
sang der amtierende Priester, und „Maria, du Gebenedeite!"
wiederholte die Gemeinde. Auch ein paar der um die Lich-

Der Jongleur.
Von Franz Wichmann.
uf seinen unsteten Artistenfahrten war Rolf Nodan einem
chinesischen Gaukler begegnet, von dem er ein aufregen-
des Kunststück erlernte.
war ein nervenfolterndes Spiel mit den: Leben des
Partners. Der mutzte sich an eine hölzerne, mit Stoff bespannte
Wand stellen, nach welcher der Jongleur scharfgeschliffene, spitze
Messer schleuderte. Pfeilen gleich flogen die blinkenden Stahlklingen
des Messerwerfers dem vor der Wand Stehenden um Hals, Kopf,
Brust und Fütze, und zuletzt zwischen die Finger der ausgebreite-
ten Hände. Ohne ihn zu verletzen, blieben sie im Holz stecken.
Nicht überall, wohin Rolf Nodan kam, konnte er seine Künste
zeigen. Das Spiel erschien den Schaustellern so bedenklich, datz sich
nur selten jemand bereitfand, die Rolle des Gefährdeten zu über-
nehmen. Endlich fand Rolf wieder einen Mitspieler in seinem Stief-
vater, für dessen Wanderzirkus er die Hauptanziehungskraft bildete.


Während Rolf noch im Ausland weilte, hatte seine längst
verwitwete Mutter, eine Artistin, den Direktor Luzian Baltus
geheiratet, aber nach einem Jahr erlag sie in kurzer Zeit einem
alten Leiden. Zur gleichen Zeit, da Baltus seine Frau verlor, war
auch sein langjähriger Freund gestorben. „Professor der Magie"
hatte sich Konrad Arnach genannt. In jungen Jahren ein schöner,
stattlicher Mann, heiratete er ein Mädchen aus guter Familie.
Vater und Mutter verlassend war ihm Mathilde gefolgt; von drei
Kindern, die sie ihm geschenkt, war nur die blonde Alma am
Leben geblieben. Die wurde den öffentlichen Schaustellungen
streng ferngehalten und genotz eine gute Erziehung. Das blieb
auch so, als die Mutter gestorben war. Nach dem raschen Tode
des Vaters sah sich das achtzehnjährige Mädchen verlassen.
In dieser Not nahm sich Luzian Baltus der Verwaisten an.
Jahrelang war er mit ihrem Vater gemeinsam von Jahrmarkt
zu Jahrmarkt gezogen. Arnachs Tochter sollte ihm die verlorene
Frau ersetzen. Die Hauswirtschaft konnte sie gut besorgen, und
außerdem war das schöne Mädchen auch bei den Vorstellungen
zu allerlei Hilfsdiensten zu brauchen.

Etwa ein halbes Jahr lebte Alma bei ihrem väterlichen Be-
schützer, als Rolf Nodan sich bei Luzian Baltus einfand.
Der Direktor war froh, den gewandten Jongleur in seine
Truppe aufuehmen zu dürfen; dieser verhalf ihm zu guten Ein-
nahmen, denn nirgends, wohin er kam, war bisher das atem-
raubende Kunststück Rodans gesehen worden.
Von der erstaunlichen Geschicklichkeit und unfehlbaren Sicher-
heit seines Stiefsohnes war Baltus schnell überzeugt gewesen,
und da sich bei seiner Truppe kein anderer dafür fand, übernahm
er ohne Bedenken die Rolle des Partners.
Rolf fühlte sich glücklich. Beim ersten Anblick in den Bann des
schönen Mädchens geraten, liebte er Alma bald' leidenschaftlich.
Durch die Ungewißheit, ob sein Empfinden erwidert werde,
steigerte sich seine Neigung immer mehr.
In solcher Gemütsverfassung beobachtete er eines Tages, datz
der väterliche Beschützer gegen die Reize der blonden Alma nicht
gleichgültigblieb. Das Mitleid, ausdem sein Stiefvater anfangs die
Verlassene zu sich genommen haben mochte, schien nicht mehr das
einzige Gefühl, das ihn beseelte. Bei einem Manne, der noch in den

terpyramide Versammelten
sprachen es mit, und unter
ihren Stimmen unterschied
Ella deutlich die der Tante
Mia. Wie qualvoll, wie ver-
zweifelt es klang! Und dann
folgte ein Aufschluchzen, das
den ganzen schwachen Kör-
per des alten Fräuleins er-
schütterte. Drauf wieder:
„Maria, du Gebenedeite!"
Endlich erhob sie sich.
Wie mit gebrochenen Füßen
schleppte sie sich die paar
Schritte bis zum Marien-
bild, dessen Augen so gemalt
sind, daß jeder, der in sie
hineinsieht, meint, sie bohr-
ten sich in die seinen, hauchte,
sich auf den Zehenspitzen er-
hebend, einen Kuß auf das
davor befindliche Gitter,
machte das Zeichen des Kreu-
zes und ging, nachdem sie es
noch flehend angeblickt, lang-
sam aus der Kirche.
Auch Ella stand auf und
folgte ihr. Und wieder ging
es durch Schnee und Sturm
nach Hause.
DemMüdchen pochtechas
Herz schwer in der Brust.
Sie hatte unsagbar Trauri-
ges erlebt, hatte gesehen,
wie eine arme Seele in Not
und Kummer rang, aber
warum Tante Mia so ver-
zweifelt war, konnte sie nicht
begreifen. Es war, als ob
die Reden von Mutter und
Bruder, die sie seit Jahren
tagtäglich hörte, sowie deren
ganzes Tun und Wesen,
die das Haus mit einer-
drückenden Stimmung von
Torheit, Kleinlichkeit und
Engherzigkeit füllten, ihr
den klaren Sinn verdunkelt
und ihr jedes Urteilsver-
mögen unmöglich gemacht
hätten. Fortsetzung,olgl.)


Unterweisung junger Vestalinnen in der Hütung des heiligen Herdfeuers und im zeremoniellen Schöpfen des Quellwassers für symbolische Waschungen.

besten Jahren stand, erschien
das begreiflich. Seine Blicke
verfolgten das Mädchen auf
Schritt und Tritt, und auf sei-
uem Gesicht spiegelte sich der
Eindruck, den ihr wechselndes
Benehmen auf ihn ausübte.
Rolf beobachtete Alma
mißtrauisch, um zu erkennen,
wie sie zu dem älterenMaune
stand. War es nur Dankbar-
keit, die ihre Liebenswürdig-
keit den: Stiefvater gegen-
über hervorrief, oder erwa-
chende Neigung? Oft wollte
er sie darum fragen, doch im-
mer wieder fehlte ihm der
Milt, Alma seine verworrene
Empfindung zu offenbaren.
Wenn er schwieg, so geschah
es nur, weil er fürchtete, ab-
gewiesen zu werden. Emp-
findlich und selbstbewußt,
Hütte er nicht ertragen, von
ihr übersehen zu werden.
So scharf er auch den
Stiefvater und die Geliebte
beobachtete, er konnte nichts
entdecken, was seinen Ver-
dacht bestätigte. Auffallend
erschien ihm nur, daß Alma
ihn: auswich, was bisher nicht
der Fall gewesen war. Oft
und gern hatte sie sich sonst
mit ihm unterhalten und sich
von seinen Fahrten in frem-
den Ländern erzählen lassen.
Seit einiger Zeit vermied sie
jede Gelegenheit, mit ihm
allein zu sein. Das deutete
Rolf schlimm.
Die Qualen der Unge-
wißheit ließen ihm jeden
Blick und jedes Wort ver-
dächtig erscheinen. Ein harm-
loses Lächeln erschien ihm
als Zeichen geheimen Ver-
ständnisses; irgendeiner be-
deutungslosen Bemerkung
legte er sofort einen Sinn
unter, der ihm das Blut
 
Annotationen