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Zeitschrift des Bayerischen Kunstgewerbe-Vereins zu München: Monatshefte für d. gesammte dekorative Kunst — 1892

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Heft 9/10
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Gurlitt, Cornelius: Die Kunstrichtung des 19. Jahrhunderts: Vortrag, gehalten im nordböhm. Gewerbemuseum
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https://doi.org/10.11588/diglit.6906#0072

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Blaumalerei auf einem ksamburger Gsen ans dem (8. Jahrh.

Gezeichnet von <£. Sdjlotfe, Hamburg, (vgl. doffen Aufsatz in Heft 5 8c 6, S. 3^ ff.)

So ist es denn ein ungeheuerer Jrrthum, zu glauben, wir könnten
stilgerecht, ganz im Geiste und den Formen einer älteren Zeit schaffen.
Das kann keiner. Jeder legt, ohne es zu wollen, soviel von seiner
Individualität in das neue Gebilde, daß wenige Jahre genügen, um
zu erkennen, daß alles dieses Kopieren müffiges Werk war, und so
wird man denn, wenn das Jahrhundert vergangen ist, über uns ganz

anders denken, als wir wohl jetzt noch meinen. Ich würde das nicht
wagen auszusprechen, wenn wir uns das Vergnügen nicht jeden Tag
machen könnten, freinde Zeiten an ihrem eigenen Urthcil zu messen
und zwar an dem Jahrhundert, das vor deui unserigen liegt. Ls gab
auch in diesein aus der einen Seite die streng klassische Richtung, ans
der anderen Seite Künstler, welche sagten, daß zwar die Antike die
Grundlage alles Schaffens bleiben, aber daß ans ihrem Geiste die Kunst
weitergebildet werden müsse, wie dies Schinkel in anderer Weise au-
strebte. Aus der letzteren Anfsaffung ging jener Dresdner Lau hervor,
der sich durch seine Schönheit innerhalb seines Stiles, durch seinen
übersprudclnden Formenreichthum ausfallend von den alten griechischen
Bauwerken unterscheidet: der Zwinger.

Wenn man nun diesen Bau sicht und liest zu gleicher Zeit die
Vorrede zu der Veröffentlichung, in welcher der Erbauer sein Werk
beschrieben hat, so kann man jene Freuden ahnen, welche sich zukünftige
Jahrhunderte mit uns machen werden. Man liest dort, daß der Künstler
seinen Bau streng im Stile der Römer geplant habe, Pöpxelmaun,
der Erbauer des Werkes, war fest davon überzeugt, daß, wenn er sein
Gebäude in Rom ausgesührt hätte, sich die alten Römer gar nicht
darüber gewundert haben würden, sondern gesagt hätten: da ist einer
von den unseren wieder neu erstanden I Es entspringt daraus für
uns der Gedanke, daß wir sehr unrecht thun, wenn wir über unsere
Zeit ein endgiltiges Urtheil abgcbcn, wenn wir glauben, wir könnten
nach irgend einer Richtung hin uns selbst überschauen und gerecht be<
urtheilen. Die folgenden (O Jahre belehren uns regelmäßig mit Sicherheit,
daß wir uns mit unserem zeitgenössischen Urtheil geirrt haben, daß
unsere Auffassung vergangener Zeiten sich ändert, ja sogar, daß unser
Auge für das, was schön ist, und unser Sinn für das verständniß
und die Werthschätzung gewisser Theile der Natur wechselt, so schnell,
daß wir es kaum begreifen können, wie es möglich gewesen ist, daß
wir vor 5 bis 6 Jahren noch mit ganz anderen Augen die Dinge
angesehen haben.

Denken wir an eines der schwankendsten Dinge in unserem schön-
heitlicheu Schaffen, an die Frauenkleider. Was paffirt uns da nicht
alles! Es giebt Moralisten, die immerwährend die Frauenkleidung
beschimpfen, die säst jede Mode sür eine Ausgeburt krankhafter Phantasie
erklären. Ich habe unter diesen Moralisten einige kennen gelernt, nament-
lich den berühmten Acsthetiker vischcr welcher donnernde Briefe gegen
die Mode losgelasscn hat. Ich habe aber gesunden, daß vischer imnier
lieber mit einer modern gekleideten Dame verkehrt hat, wie mit einer
unmodern gekleideten; daß er in der Aesthetik die Mode imnier ver-
worfen, ihr in der Praxis aber bis zu einem gewissen Grade nach,
gegangen ist. Das ist ein Beweis dafür, daß es nicht eine endgiltig
schöne Mode giebt, sonder» daß die Umbildung des Auges imnier neue
Formen fordert: was heute schön erscheint, erscheint morgen häßlich.
Das Eigenthüinliche ist aber, daß es gar kein feststehendes Schönheits-
ideal giebt, daß kein Kunstprinzip für alle Zeiten gütig ist, daß das
Schöne nicht fertig in der Natur vorhanden ist, sondern daß wir be-
stimmte Dinge in der Welt sür schön halten, in die wir unseren per-
sönlichen Schönheitsbegriff hineingelegt haben.

Wir haben bis jetzt beobachtet, mit wie außerordentlicher Ge-
schwindigkeit die Stile von uns absolvirt wurden, welche bei ihrein
ersten Austreten durch Jahrhunderte hindurch sich gebildet hatten. Die
Gothik hat n Jahrhunderte gedauert, wir sind im Wesentlichen in
-xo Jahren mit ihr fertig geworden. Barock und Rococo dauerten
2 Jahrhunderte, wir haben sie in einem Jahrzehnt absolvirt. Da
inüssen wir denn doch fragen: Wie geschieht es denn, daß uns ein
Gegenstand als schön und so bald daraus wieder als gleichgiltig er-
scheint? Es geschieht das dadurch, daß wir uns nach und nach an
den Anblick bestilnmter Formen gewöhnen. Wenn man nun aus ein
ksaus hingewiesen wird, an dem man vielleicht viele Jahre achtlos
vorübergegangcn ist, auf seine cigenthümliche Gestalt, seine Schönheit,
so dauert es wohl eine gewisse Zeit, während welcher uns das bjaus
befremdlich und gleichgiltig ist, dann aber saugen gewisse Bilder
an, im Gedächtniß hasten zu bleiben; wer zeichne» kann, vermag
nach einiger Zeit das kjaus aus den, Gedächtniß wiederzugeben, weiß
wie viel Fenster es hat, kennt seine Eigenthümlichkeiten; wer sich eine
längere Zeit in seinen Anblick eingelebt hat, bekoinmt eine gewisse
Liebe zu dem geistig angeeigneten Gegenstände, koinmt soweit, daß er
ihn nach dem Maßstab seiner Auffassungssähigkcit beherrscht. In
diesem Zustand liebt er das Werk und findet es schön. Dann kommt
aber früher oder später der Zeitpunkt, wo ihm das Gedächtnißbild
 
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