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Abb. 2. Römisches Theater, Schnitt, Vitruv 5. Buch, nach Perrault. Paris 1684, französisch.
eit der Zeit des Römischen Kaisers Augustus kann ein einigermaßen gewissen-
hafter Betrachter der Entwicklung der Baukunst an dem Lehrbuch des Vitruv, an
den Zehn Büchern der Baukunst (Vs ^roliiteetara Vibri Veoem), nicht vorüber-
gehen, ohne dem Verfasser und in ihm dem Genius des Künstlers und dem Adel
des Mannes seine Ehrerbietung zu bezeugen.
Trotzdem ist es in unseren Tagen sehr still von diesem Ansterblichen ge-
worden. Es ist freilich begreiflich, daß unsere Zeit, in der die Menge die Ge-
setzlosigkeit und Schrankenlosigkeit des Ich aus ihre Fahnen geschrieben hat, zu
dieser Ehrerbietung weniger geneigt war, wie alle früheren Jahrhunderte.
Dazu kommt die kurzlebige Aberhebung der Tagesschriststeller und der Kunstschreiber, denen die strenge
Größe des Mannes sowohl wie die Strenge seiner Auffassung der Pflichten eines Baukünstlers und noch
vielmehr die Aufstellung von Kunstgesetzen, die für die Dauer berechnet waren, überhaupt unbequem ist.
Dennoch ist ein Werk wie die 10 Bücher der Baukunst nicht völlig in den Schatten zu stellen. An-
klänge an seine Lehre und Ausstrahlungen seines trotz der Dunkelheit der Sprache doch so klaren Lichtes
finden wir in allen Werken, die sich um eine edle gesetzmäßige Baukunst bemühen.
Aber nicht nur in den Erwägungen über die Baukunst, selbst in den Namen neuer „Bücher über das
Bauen" schwingt ein solcher Widerhall, auch in der Ausübung dieser edlen Kunst brechen heute ohne
Wollen der Schaffenden seine Lehren wieder durch — mehr als seit langer Zeit. Das geschieht durch
die Übermacht der von ihm (vielleicht nur unbewußt) erkannten und der Erkenntnis vermittelten Gesetz-
mäßigkeit gewisser Bildungen und Notwendigkeiten der Baukunst.
Die römische Urschrift seiner 10 Bücher besitzen wir nicht; dagegen kennen wir 55 spätere Ab-
schriften^). Die ältesten derselben stammen aus dem Beginn des neunten Jahrhunderts, und erst mit
dem endenden fünfzehnten Jahrhundert machen die schriftlichen Wiedergaben den gedruckten Vitruv-
ausgaben Platz.
Man sieht, auch jene Folge von Abschriften erstreckt sich über Jahrhunderte. Jahrhunderte, in denen
ein freilich nur beschränkter Kreis von Menschen sich mit den Lehren des alten Römers bewußt beschäftigte,
während seine Grundgedanken, wie heute, auch in der großen Menge der Baumeister nie ganz ver-
gessen werden.
Nach der gewöhnlichen Aberlieserung sind Vitruvs Schriften im Mittelalter nur in den Klosterbüche-
reien bewahrt und benutzt worden. Man darf vielleicht eher sagen, nur Abschriften, die in sicheren
Klosterbüchereien bewahrt wurden, sind in größerer Zahl aus unsere Tage gekommen. Gerne aber ver-
') Verzeichnis in der Ausgabe Prestel, IS12, Bd. II, Seite LS2 ff.
Abb. 2. Römisches Theater, Schnitt, Vitruv 5. Buch, nach Perrault. Paris 1684, französisch.
eit der Zeit des Römischen Kaisers Augustus kann ein einigermaßen gewissen-
hafter Betrachter der Entwicklung der Baukunst an dem Lehrbuch des Vitruv, an
den Zehn Büchern der Baukunst (Vs ^roliiteetara Vibri Veoem), nicht vorüber-
gehen, ohne dem Verfasser und in ihm dem Genius des Künstlers und dem Adel
des Mannes seine Ehrerbietung zu bezeugen.
Trotzdem ist es in unseren Tagen sehr still von diesem Ansterblichen ge-
worden. Es ist freilich begreiflich, daß unsere Zeit, in der die Menge die Ge-
setzlosigkeit und Schrankenlosigkeit des Ich aus ihre Fahnen geschrieben hat, zu
dieser Ehrerbietung weniger geneigt war, wie alle früheren Jahrhunderte.
Dazu kommt die kurzlebige Aberhebung der Tagesschriststeller und der Kunstschreiber, denen die strenge
Größe des Mannes sowohl wie die Strenge seiner Auffassung der Pflichten eines Baukünstlers und noch
vielmehr die Aufstellung von Kunstgesetzen, die für die Dauer berechnet waren, überhaupt unbequem ist.
Dennoch ist ein Werk wie die 10 Bücher der Baukunst nicht völlig in den Schatten zu stellen. An-
klänge an seine Lehre und Ausstrahlungen seines trotz der Dunkelheit der Sprache doch so klaren Lichtes
finden wir in allen Werken, die sich um eine edle gesetzmäßige Baukunst bemühen.
Aber nicht nur in den Erwägungen über die Baukunst, selbst in den Namen neuer „Bücher über das
Bauen" schwingt ein solcher Widerhall, auch in der Ausübung dieser edlen Kunst brechen heute ohne
Wollen der Schaffenden seine Lehren wieder durch — mehr als seit langer Zeit. Das geschieht durch
die Übermacht der von ihm (vielleicht nur unbewußt) erkannten und der Erkenntnis vermittelten Gesetz-
mäßigkeit gewisser Bildungen und Notwendigkeiten der Baukunst.
Die römische Urschrift seiner 10 Bücher besitzen wir nicht; dagegen kennen wir 55 spätere Ab-
schriften^). Die ältesten derselben stammen aus dem Beginn des neunten Jahrhunderts, und erst mit
dem endenden fünfzehnten Jahrhundert machen die schriftlichen Wiedergaben den gedruckten Vitruv-
ausgaben Platz.
Man sieht, auch jene Folge von Abschriften erstreckt sich über Jahrhunderte. Jahrhunderte, in denen
ein freilich nur beschränkter Kreis von Menschen sich mit den Lehren des alten Römers bewußt beschäftigte,
während seine Grundgedanken, wie heute, auch in der großen Menge der Baumeister nie ganz ver-
gessen werden.
Nach der gewöhnlichen Aberlieserung sind Vitruvs Schriften im Mittelalter nur in den Klosterbüche-
reien bewahrt und benutzt worden. Man darf vielleicht eher sagen, nur Abschriften, die in sicheren
Klosterbüchereien bewahrt wurden, sind in größerer Zahl aus unsere Tage gekommen. Gerne aber ver-
') Verzeichnis in der Ausgabe Prestel, IS12, Bd. II, Seite LS2 ff.