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Becksmann, Rüdiger
Die mittelalterlichen Glasmalereien in Freiburg im Breisgau: Münster Unserer Lieben Frau — Corpus vitrearum medii aevi - Deutschland, Band 2,2, Teil 1: Berlin: Deutscher Verlag für Kunstwissenschaft, 2010

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https://doi.org/10.11588/diglit.52840#0096

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EHEMALS CHOR I (JESSEFENSTER)

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den thronenden Figuren von Jeremias, Daniel, Petrus und Paulus als Ersatz für inzwischen verlorengegangene Medail-
lons die als ursprünglich vermutete gleichmäßige Verteilung der Medaillons auf die Fenster NORD und SÜD VI wieder-
hergestellt (s. Reg. Nr. 116); durch Aufnahmen (Fig. 30) und Beschreibungen vor 1908 ist dieser Zustand überliefert40. In
diesem Jahr hat Geiges alle figürlichen und ornamentalen Scheiben herausgenommen und beide Fenster mit Butzen ver-
glast. 1911 erfolgte die Instandsetzung der neun originalen Medaillons, 1918 ihre Versetzung in die Dreifenstergruppe
des südlichen Querhauses. Hierzu entwarf Geiges nicht nur einen doppelten Ornamentrahmen, sondern auch zwischen
den Medaillons vermittelnde, mit Blättern gefüllte Rauten und Kreise sowie Halbfiguren betender Engel für die rund-
bogigen Fensterabschlüsse, während er die originalen Ornamentfragmente sowie ein Gewandfragment dem Museum
überwies. 1927 kamen noch drei monumentale Inschrifttafeln in den Sockelfeldern hinzu, in denen Geiges die von ihm
an der Farbverglasung des Freiburger Münsters in den Jahren 1908 bis 1927 durchgeführte Restaurierung in lateinischer
Sprache für die Nachwelt dokumentierte41. 1923 entzündete sich gerade an der »überwuchernden Ornamentik« der neu
geschaffenen Rahmung der Jesse-Scheiben die Kritik an den Geiges’schen Restaurierungsmaßnahmen (s. Reg. Nr. 221).
Die Folge war, daß die Bedeutung dieses einzigartigen Scheibenbestandes trotz der abbildungsreichen Erstveröffent-
lichung durch Geiges erst 1968 im Zusammenhang mit seiner Bearbeitung für das CVMA erkannt wurde; seit der
Präsentation einer Scheibe auf der legendären Ausstellung »The Year 1200«, die das Metropolitan Museum of Art im
Frühjahr 1970 aus Anlaß seines hundertjährigen Bestehens in New York veranstaltet hatte, ist sie Allgemeingut gewor-
den. Im Zuge der Sicherungsmaßnahmen erhielten die Scheiben 1974 eine Außenschutzverglasung; ihre Reinigung und
Konservierung in der Werkstatt Oidtmann erfolgte erst 1981 und blieb, sieht man einmal von der weitgehenden Ent-
fernung der Geiges’schen Übermalung ab, auf minimale Eingriffe beschränkt.
Erhaltung: Der durch vorzügliche Einzelaufnahmen dokumentierte Zustand vor der Geiges’schen Restaurierung
(Fig. 31) läßt deutlich erkennen, daß die Werkstatt Heimle & Merzweiler 1876/78 zwar die noch vorhandenen neun
Medaillons gereinigt, instandgesetzt und teilweise neu verbleit, sie jedoch keiner tiefgreifenden Restaurierung unterzogen
hatte: Altere neutrale Flickstücke blieben ebenso unberührt wie die wenigen durch Schwarzlotverluste beeinträchtigten
Gläser des Blattwerks. Technisch unbeholfen ersetzt wurden allerdings die Köpfe von Isaak und Elias sowie das Spruch-
band von Roboam. Ob die vier neu geschaffenen Medaillons damals noch vorhandene Reste widerspiegeln, ist angesichts
dieses Befundes eher unwahrscheinlich. Daß Geiges 1911 nicht nur sämtliche Ergänzungen seiner Vorgänger, sondern
auch nahezu alle neutralen Flickstücke durch aus seiner Sicht technisch und stilistisch »passendere« Ergänzungen ersetzt
und alles neu verbleit hat, entsprach seinen Restaurierungsgrundsätzen. Hierzu gehörte allerdings auch, daß er nur die
wirklich lockeren Verwitterungskrusten entfernte, die nahezu unverwitterten Gläser hingegen mit einem kalt aufgetra-
genen Überzug versah, um ihre Transparenz zu dämpfen42. Das 1918 von Geiges geschaffene Erscheinungsbild hatte

35 Diese Erkenntnis beruht auf den Forschungen von Daniel Parello
zu den beiden aus dem Hochchor veruntreuten Straßburger Scheiben
im Karlsruher Landesmuseum (Parello 1997, S. 22-28); sie wurde in-
zwischen von der baugeschichtlichen Forschung (Flum 2001, S. 45 — 59,
Abb. 35, 46 f., 55) bestätigt. Hatte man bisher angenommen, daß die Voll-
endung des Chores nach Wiederaufnahme im Jahre 1471 von Osten nach
Westen erfolgte, so sprechen nun alle Indizien dafür, daß das erste Joch
des Chorneubaues bereits 1494 in Nutzung genommen wurde, nachdem
das spätromanische Chorpolygon spätestens bis 1492 abgetragen wor-
den war, worauf auch in der westlichen Hochchorwand vermauerte spät-
romanische Spolien (Flum 2001, S. 60) hinweisen. - Noch 1986 war ich
davon ausgegangen, daß die Niederlegung der Apsis und die Übertragung
von Resten ihrer Farbverglasung auf Grund der Baugeschichte (Julier
1978, S. 75-151) frühestens 1509 erfolgt sein kann.
36 Offenbar konnte man hierfür nicht mehr die Baugerüste nutzen, da
ein Marx zu Beginn des zweiten Halbjahrs 1493 Zahlungen für Fenster-
gerüste erhielt.
37 Parello 2000, S. 25, Anm. 45, hatte dagegen für das südliche Fenster
nur 2.892 Rauten ermittelt und daraus für jene bereits 1493, auf Grund
späterer Überlieferung allerdings im nördlichen Fenster eingesetzten
spätromanischen Medaillons eine Fläche von knapp 3 qm errechnet.
38 Falls die Zeichnung die Anzahl der Medaillons richtig wiedergibt,
müssen zu einem unbekannten Zeitpunkt im Laufe des 18. Jh. drei
Medaillons aus dem südlichen Fenster zusammen mit den Scheiben aus
der Sakristei hierher versetzt worden sein.

39 Zur Identifizierung der beiden, 1959 bzw. 1961 in das Badische Landes-
museum Karlsruhe gelangten Scheiben s. S. 397!-
40 Kempf/Schuster 1906, S. 143, 146, erwähnen im ersten Fenster der
Nordseite »Moses, Jakob, Salomon, Roboam, Joram« und im letzten
Fenster der Südseite »vier Propheten sowie Petrus und Paulus«. Nach
Geiges 1931-1933, S. 12, Anm. 2, sollen sich hier unter den vier von
Heimle & Merzweiler neu geschaffenen Medaillons (ebenda, Abb. 2-5)
»Isaak, Elias und Maria« befunden haben, was aber nicht durch Auf-
nahmen bestätigt wird: Sie zeigen auf der Nord- wie auf der Südseite
(Fig. 29) jeweils sechs Medaillons. Folglich muß Maria entgegen der
Angabe von Geiges zwischen 1878 und 1908 im Nordfenster gesessen
haben. Noch 1926, S. 191, hält Kempf die von ihm übersehene »Königin
mit Szepter« daher für »neu«.
41 Vgl. die farbige Gesamtaufnahme in: Mittmann 2005, S. 13.
42 Bezeichnenderweise zeigen die von ihm angefertigten und 1931 teil-
weise abgebildeten Einzelaufnahmen (Fig. 32) die Scheiben noch ohne
den erst nach ihrer Versetzung in die Dreifenstergruppe des Südquer-
hauses in situ kalt aufgebrachten Überzug. Außerdem hat Geiges nicht
nur den Kopf Christi, sondern auch denjenigen Jorams zuvor in der
Werkstatt nachkonturiert und neu gebrannt. Weitere Auswechslungen
oder kalte Übermalungen von Gläsern deuten darauf hin, daß er diese
Veränderungen des Zustandes zwischen der wohl 1911 erfolgten Auf-
nahme der Scheiben und ihrer Einsetzung 1918 vorgenommen hat. Jeden-
falls zeigt eine 1918 gefertigte Aufnahme bereits den nachkonturierten
Christuskopf (Geiges 1931-1933, Abb. 1).
 
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