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Hochschule für Industrielle Formgestaltung [Editor]
Designtheoretisches Kolloquium — 16.1995

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Bergius, Hanne: Ästhetische Imaginationen zum künstlichen Menschen
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https://doi.org/10.11588/diglit.31840#0016

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turgetreu aus nicht rostendem Stahl nachzu-
ahmen, er füllt sie auch nach den neuesten
Erkenntnissen mit künstlichem Fleisch und
stattet sie zugleich mit einem Phonographen
aus, der ihre Stimme nachahmte.

Bestimmte die Mechanik im 18. Jahrhundert
das „Leben" des „L' homme machine", so im
neuen Jahrhundert von Helmholtz Elektrizi-
tät und Energie. (12) Zusammenhänge zwi-
schen Willensbildung, Nervensystem und
Energien wurden oftmals im Bild derTelegra-
phie festgehalten und hiervon profitierte
auch noch die Inszenierung der künstlichen
Maria-Schöpfung in „Metropolis" (1927) von
Fritz Lang (Abb. 4). Das Flechtwerk der Ner-
ven fand eine Entsprechung in den Leitungs-
drähten, die von allen Seiten an das Subjekt
angeschlossen werden konnten. In Eduard
von Hartmanns „Philosophie des Unbewuß-
ten" (1869) ist die Rede von „Nerven-
leitungen", von „Willensimpulsen", die
„empfangen werden" wie der Strom, von
„ausgehenden Strömen" und „ununterbro-
chenen Leitungen". (13)

Abb. 4: Fritz Lang: "Metropolis", 1927

Diese Innovationen der Elektrizität und ihre
umfassenden Auswirkungen auf den Alltag
schufen zugleich das Bild eines neuen
Menschentypus, den die Kunst und Literatur
aus diesem Reizklima der Spannungen und
Entladungen entstehen sah - es war der en-
ergetische Mensch der Großstädte, der diese
selbst wie ein großes Kraftfeld erlebte. Es war
der Neue Mensch, der sich in einem langen
Prozeß der De-Naturierung und Verkünst-
lichung auf die zweite Natur der Technik und
Wissenschaften konditionierte.

4. Der futuristische Übermensch -
offensiv und defensiv

Gestärkt an diesen Innovationen sollte der
futuristische Übermensch, von Marinetti 1912
kreiert, als visionäre Symbiose all der techni-
schen und wissenschaftlichen Möglichkeiten
am Anfang des 20. Jahrhunderts erscheinen
- mit Elektrizität gespeist, mit Rädern und
Zylindern ausgestattet, eröffnete er die „Ära
der großen mechanischen Helden" (14), die
zugleich ihre energetische Macht mit der ex-
pandierenden nationalistisch gesonnenen
Politik verbanden und auf dem Schlachtfeld
erproben wollten. Wie wir wissen, unterstütz-
ten die Futuristen Mussolinis Politik.

Auf die Kraft dieser neuen mechanisch-elek-
trifizierten Individualität setzten aber auch
die russischen Futuristen in der Avantgarde-
Oper „Sieg über die Sonne" und verbanden
sie nun mit ihrem revolutionären Konzept.
In dieser „elektromechanischen Schau", zu
deren Inszenierung von 1920 El Lissitzky die
Mechano-Figuren entwarf, sollte „die Sonne
als Ausdruck der alten Weltenergie" durch
den modernen Menschen vom Himmel her-
abgerissen werden, „der sich kraft seines
technischen Herrentums eine eigene Energie-
quelle" schuf. (15) Der Sieg der Technik wur-
de als Sieg der Revolution gefeiert: „Kommu-
nismus = Sowjetmacht + Elektrifizierung"
(Lenin) (1923).

Die technische Dynamik sollte in jedem Fall
alte Bindungen sprengen und neue Visionen
eröffnen. Der neue Mensch ersetzte traditio-
nelle Verwurzelung durch Mobilität, Natur-
rhythmen durch urbanes Tempo; nicht das
Individuum, sondern der Typus; nicht das
Original, sondern die Reproduktion; nicht
der Organismus, sondern der Apparat - das

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