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Hochschule für Industrielle Formgestaltung [Hrsg.]
Designtheoretisches Kolloquium — 16.1995

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Funke, Rainer: Cyberspace versus Homukulus? Beginnt das Problem im Virtuellen?
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https://doi.org/10.11588/diglit.31840#0058

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Bereits erfolgreich realisierte Fernoperatio-
nen via virtuelle Darstellung verweisen uns
darauf, daß diese Berührungen durchaus von
ganz realer Kraft sind.

In der Gesamtheit ist dann hoch-artifizielles
Leben nicht weniger Leben als prä-artifiziel-
les Leben, genauso, wie wir heute schon Per-
sonen mit Herzschrittmachern als durchaus
vollwertige Menschen ansehen - ebenso je-
manden, der sein Leben nach den Weishei-
ten der Bücher regelt, ganz und gar nicht als
weniger persönlich identisch oder mental
unvollkommen.

Wir sind auf dem Weg zu einer Kontinuität
zwischen äußerlich-artifiziellen Lebewesen,
biozeilulären Automaten, techno-zellulären
Robotern und technisch integriertem mensch-
lichen Selbstbewußtsein auf der Grundlage
beherrschter Funktionsabläufe. Die Heraus-
forderung scheint darin zu bestehen, letzte-
rem Autonomie und kreatives Zentrum zu
bewahren bzw. neu zu setzen.

„Die biotechnologischen Werkzeuge wären

.(dabei) Produzenten vielseitiger Wirklich-

keiten, die artifizielle Umgebungen konstru-
ieren, von denen manche als gefährlich und
unverträglich betrachtet werden können,
und zugleich enthielten sie die Lösungen,
indem sie die menschlichen körperlichen und
intellektuellen Fähigkeiten ins überdimensio-
nale steigern."

(Luis Bec: Das Technobiom. In: Erzeugte Rea-
litäten II. s.a.a.O., S. 15)

Die Kontinuität eines äußeren Weltbezuges,
die wir gegenwärtig alltäglich unterstellen,
beinhaltet ähnliche Brüche, wie sie zwischen
dieser Welt und der der technisch integrier-
ten Wahrnehmungssteuerung angenommen
wird.

Allein das Überqueren einer normalen
Großstadtstraße verwickelt uns heute in völ-
lig unterschiedliche Welten, die auf der
Grundlage zeichenbezogenen Handelns ge-
neriert werden und per se ohne Übergang
zueinander stehen:

Die einfache Wahrnehmung des Untergrun-
des in Bezug auf das Laufen und Stehen wird
unterbrochen durch die Interpretation der
Bordsteinkante als Ende des Fußwegs und
Anfang der Straße (Fahrzeuge haben Vor-
rang). Dieser Wechsel hinein in ein Zeichen-
system ist lebensnotwendig. Ebenso der

erneute Wechsel in das System der Verkehrs-
schilder und dann der weitere Wechsel in die
Zeichenwelt der Verkehrsampeln. Zurück
geht es in die Wahrnehmungsebene der Ge-
genstände auf der Straße in ihrer Beziehung
zu meinem Körper, ihrer und meiner Ge-
schwindigkeit und Kraft. Hinzu kommt ein
neues semiotisches System: das der Gesten
und der Mimik als Bestandteil meiner Inter-
aktion mit den anderen Verkehrsteilnehmern.
Darüber hinaus gilt es, die Blink- und Hup-
zeichen der Fahrzeuge zu decodieren.

Im selben Moment bin ich vielleicht im Ge-
spräch mit einem anderen Menschen, der mit
mir gleichzeitig die Straße quert. Das Ge-
spräch führt mich in ganz andere Welten.
Parallel dazu erreichen mich noch einige
Werbebotschaften von Plakaten sowie aus
dem Lautsprecher eines Kaufhauses, und auf
dem Gehweg gegenüber lächelt mich ein
verführerisch schönes Gesicht an.

Trotz dieser Vielfalt der Erlebniswelten, die
ja durchaus für sich unvermittelt nebenein-
ander existieren, gelingt es immer wieder
ohne nennenswerte Probleme, derartige
komplexe Situationen zu bewältigen und die
unterschiedlichen Zeichensysteme, zwischen
denen jeweils zu wechseln ist, einheitlich auf
Handlungsfolgen bzw. Vorhaben - z.B. eben
eine Straße zu überqueren - zu beziehen.

Ganz analog dazu ist die Fähigkeit der Desi-
gner und der Nutzer von Design-Resultaten
zu erklären, jeweils neue Gegenstände und
Medien des Design hinsichtlich der Nutzer-
anforderungen und der Verkäuferabsichten
in ihren Wahrnehmungsformen zu einer
ganzheitlichen Gestaltwelt der Gesellschaft
zu integrieren.

Insofern sind die neuen, virtuellen Arbeits-
felder im Design als Konsequenz eines anhal-
tenden Artifizialisierungsprozesses mensch-
lichen Lebens nur eine unter mehreren
Erweiterungen der Medien bewußter Ausein-
andersetzung mit den Gestaltqualitäten a11-
täglichen Erlebens.

Das Design einer Cyberspace-Welt steht in
direkter Verbindung zum Design eines Stuhls,
eines Wegeleitsystems oder einer betriebli-
chen Fertigungsstrecke.

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