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Hochschule für Industrielle Formgestaltung [Hrsg.]
Designtheoretisches Kolloquium — 16.1995

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Jonas, Wolfgang: De-Materialisierung durch Körperorientierung - ein Gedankenexperiment
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https://doi.org/10.11588/diglit.31840#0079

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je nach Radikalität und Interessenlage - den
1/5-Club oder auch den 1/20-Club. Die Zah-
len tun wenig zur Sache. Das ganze ist pri-
mär die Forderung nach Verlängerung der Le-
bensdauer der Produkte, Funktionsorien-
tierung statt Objektorientierung, Wiederver-
wertung / -verwendung, etc., flankiert von
Rufen nach gesetzlichen Regelungen und
wieder dem unvermeidlichen Appell zum
Umdenken.

Wir können tatsächlich nur ausgehen von der
Situation, wie sie ist und von der Ent-
wicklungsdynamik, wie sie sich darstellt: Welt-
weiter Wettbewerb, industrielle Produktion
mit steigender Produktivität, Fligh-Tech-Do-
minanz, begrenzter Einfluß der Politik (Zu-
kunft wird ausgehandelt) und stärker wer-
dendes individuelles Streben nach Sinn / Lust
/ Qberleben ...

Das mag sehr pragmatisch, fast resignativ
klingen. Allerdings nur, wenn wir den rück-
wärtsgewandten Lösungsvarianten hinter-
herlaufen wollen. Es gibt sicher eine Fülle
zukunftsorientierter, lustvoller Alternativen,
die - u.a. durch Design - zu entwickeln und
zu publizieren wären. Ich will nun den Ge-
danken der Entmaterialisierung durch Kör-
perorientierung präzisieren.

Die nächste Stufe der Weltaneignung: Den
Körper als unser wichtigstes Sensorium wie-
derentdecken

Das Ziel ist, die Grenze Innen - Außen / Kör-
per - Geist / virtuell - real auf einer neuen Er-
kenntnisstufe durchlässiger zu machen. Die
strikte Trennung von lch und Welt stellt sich
im Rückblick als eine notwendige Ge-
dankenoperation dar, um in die Position des
unabhängigen Beobachters der Außenwelt
zu gelangen. Um mit der nicht zu leugnen-
den Materialität, Fehleranfälligkeit und Ver-
gänglichkeit des eigenen Körpers klarzu-
kommen, war es notwendig, die Trennung
von Körper und Geist vorzunehmen. Das In-
nen des Geistes war damit vom Innen des
Körpers getrennt, hatte nun aber auch kei-
nen Ort mehr.

ELIAS sagt (Prozeß S. XLVII, XLVIII): „In der
klassischen Philosophie tritt diese Figur etwa
als das erkenntnistheoretische Subjekt auf die
Szene. In dieser Rolle, als homo philosophicus,
gewinnt der einzelne Mensch Erkenntnisse
über die Welt „außerhalb" seiner ganz aus
eigener Kraft. ...

... er erkennt überdies auch ganz unmittel-
bar hier und jetzt, daß sie kausal und natur-
gesetzlich miteinander verknüpft sind. Die
Frage der Philosophen ist lediglich, ob er diese
Erkenntnis der Kausalverknüpfung hier und
jetzt aufgrund seiner Erfahrung gewinnt, ob
diese Verknüpfung mit anderen Worten eine
Eigentümlichkeit der beobachtbaren Tatsa-
chen „außerhalb seiner" ist, oder ob sie eine
durch die Eigenart der menschlichen Vernunft
vorgegebene Zutat des menschlichen „Inne-
ren" zu dem ist, was von „außen" durch die
Sinnesorgane in das „Innere" hineinströmt.
Von diesem Bild des Menschen, von dem
homo philosophicus her, der nie ein Kind war
und gleichsam als Erwachsener auf die Welt
kam, gibt es keinen Ausweg aus dieser
erkenntnistheoretischen Sackgasse."

ELIAS (Was ist Soziologie? S. 131/132): „In der
Entwicklung der menschlichen Gesellschaft
erleben sich Menschen um so stärker als von
Naturobjekten und von anderen Menschen
abgetrennte Einzelwesen, je mehr sich auf
Grund ihres gesellschaftlichen Trainings Re-
flexion und Gewissen kontrollierend und zäh-
mend zwischen die eigenen spontaneren
Handlungsimpulse und die anderen Men-
schen, die anderen Naturobjekte, einschie-
ben. Deshalb ist es alles andere als einfach,
die Einsicht in die Echtheit des Gefühls einer
trennenden Mauer zwischen dem eigenen
„Inneren" und der Welt „da draußen" mit
der Einsicht in ihr Nichtvorhandensein zu ver-
binden. In derTat bedarf es zu dieser Einsicht
eines weiteren Schubes der Selbstdistan-
zierung. Erst mit dessen Hilfe vermag man
das, was als tatsächlich existierende, als tren-
nende Distanz zwischen sich selbst und „an-
deren", zwischen „Individuum" und „Gesell-
schaft", zwischen „Subjekt" und „Objekt" er-
scheint, als Verdinglichung von eigenen, so-
zial eingebauten Distanzierungsakten zu
erkennen." Vgl. auch JONAS: Beobachtung
1., 2. und 3. Ordnung.

Die Entwicklung des Konstruktivismus scheint
ein solcher, von ELIAS als Schub der Selbst-
distanzierung bezeichneter Vorgang zu sein.
Hier soll nur ganz kurz die naturwissen-
schaftliche Basis angerissen werden:

Das Prinzip der undifferenzierten Kodierung
besagt, daß in den Erregungszuständen ei-
ner Nervenzelle nicht die physikalische Na-
tur der Erregungsursache codiert ist, sondern
nur die Intensität dieser Erregungsursache,

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