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Hochschule für Industrielle Formgestaltung [Hrsg.]
Designtheoretisches Kolloquium — 16.1995

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Noack, Klaus-Peter: Die Wirklichkeit des Virtuellen
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https://doi.org/10.11588/diglit.31840#0158

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ner konkreteren ,Wirklichkeit', die unter
Umständen ohne Bedeutung ist." An dieser
Stelle bringt Nelson eine Fußnote an:

„Fast genauso treffend ist meiner Meinung
nach der Ausdruck ,mentale Umgebung'.
Meine Studenten haben mich gedrängt, den
Begriff ,VirtuaIität' beizubehalten, obwohl er
bei den Benutzern sogenannter ,virtueller
Systeme' Verwirrung stiften kann, denn da-
mit sind reale Systeme gemeint, die mit riesi-
gen virtuellen Speichern verbunden sind."

In seiner Erläuterung von Virtualität fährt er
folgendermaßen fort:

„Ein interaktives Computersystem setzt sich
aus einer Reihe von Präsentationen zusam-
men, die den Geist in ganz ähnlicher Weise
beeinflussen sollen wie ein Film. Das ist kei-
ne zufällige Analogie, sondern ein zentraler
Aspekt.

Ich verwende den Ausdruck ,virtuell' in sei-
ner traditionellen Bedeutung, im Gegensatz
zu ,real'. Für die Realität oder Wirklichkeit
eines Films istzum Beispiel die Frage entschei-
dend, wie die Kulissen gemalt sind und wie
die Schauspieler zwischen den Aufnahmen
postiert worden sind. Doch wen interessiert
das? Die Virtualität ist das, was der Film zu
sein scheint. Zur Wirkiichkeit eines interakti-
ven Systems gehört seine Datenstruktur und
die Programmiersprache, auf der es beruht.
Aber, noch einmal, wen interessiert das? Der
entscheidende Gesichtspunkt ist, was es zu
sein scheint.

Eine ,VirtuaIität' ist also eine Scheinstruktur -
die Vorstellung von dem, was geschaffen
worden ist. In was für einer Vorstellungswelt
befinden Sie sich? Entscheidend ist diese
Umgebung, deren Fähigkeitzu reagieren und
das Gefühl, das sie vermittelt - nicht die irre-
levante ,Wirklichkeit' der Einzelheiten, die für
die Durchführung und Verwirklichung erfor-
derlich waren. Die eigentliche Aufgabe beim
Entwurf und bei der Durchführung der Vir-
tualität besteht also darin, einen solchen
Schein als geschlossenen, ganzheitlichen Ein-
druck hervorzurufen. Das gilt für ein Textver-
arbeitungssystem genauso wie für einen
Film" (zitiert nach Rheingold 1992, S. 265 f).

Die „Wirklichkeit", damit meint Nelson ein-
deutig die Prozesse und die ganzen Appara-
te, die der Bilderzeugung dienen. Bezüglich

Computer also die Hard- und Software.

Daß die Wirklichkeit nicht interessiert, heißt
einfach, daß für den Nutzer ganz andere Fra-
gen stehen als für Computertechniker und
Programmierer. Der Nutzer ist, solange alles
funktioniert, eben nicht mit der Struktur des
Computers und den Eigenschaften der Pro-
gramme befaßt, sondern z. B. mit dem Text
und der Form eines Briefes. Er nimmt im Ide-
alfall den Computer als solchen gar nicht
mehr wahr, da seine Aufmerksamkeit voll auf
den Brief gerichtet ist.

Die Herstellung von Virtualität bedeutet also,
so verstanden, die Herstellung des perfekten
Instruments, mit dem ich störungsfrei arbei-
ten kann. Im Umgang mit dem Instrument
wird mir nur das bewußt, was auf der Bedeu-
tungsebene der Handlungen liegt, die ich mit
seiner Hilfe ausführen will, alles andere sind
Störungen. ßl

Damit wird deutlich, daß es Nelson um eine
ergonomische Qualität des Umganges mit
Computern geht. Spätestens dann, wenn er
klarmacht, daß auch für Textverarbeitungs-
systeme Virtualität anzustreben ist, wird deut-
lich, daß es nicht um den Gegensatz von real
und virtuell geht, wie wir ihn aus der physi-
kalischen Optik kennen.

Die Frage, um die es Nelson geht, läßt sich
sehr gut in den von Heidegger in „Sein und
Zeit" für die Analyse von Umweltlichkeit und
Weltlichkeit entwickelten Begriffen präzisie-
ren (vgl. dazu Winograd und Flores). Es geht
darum, was im Umgang mit dem Computer
thematisch wird. Geraten Hard- und Software
in den Modus der Auffälligkeiten, der Auf-
dringlichkeit und Aufsässigkeit, so machen
sie sich in ihrer Vorhandenheit geltend.
Heidegger: „In der Auffä11igkeit, Aufdring-
lichkeit und Aufsässigkeit geht das Zuhan-
dene in gewisser Weise seiner Zuhandenheit
verlustig. Diese ist aber selbst im Umgang mit
dem Zuhandenen, ob zwar unthematisch,
verstanden. Sie verschwindet nicht einfach,
sondern in der Auffä11igkeit des Unver-
wendbaren verabschiedet sie sich gleichsam.
Zuhandenheit zeigt sich noch einmal, und
gerade hierbei zeigt sich auch Weltmäßigkeit
des Zuhandenen" (S. 74).

In Heideggers Begriffen ist die Bedingung von
dem, was Nelson als „Virtualität" bezeichnet,

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