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Hochschule für Industrielle Formgestaltung [Hrsg.]
Designtheoretisches Kolloquium — 16.1995

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Suckow, Michael: Die virtuelle Landpartie - ein Spaziergang durch unsere Vorstellungen
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https://doi.org/10.11588/diglit.31840#0208

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nur praktisch, sondern auch ideell angeeig-
nete, vorgefundene geologisch-biologische
territoriale Konfiguration zu begreifen ist.
(Ob für diese Konfiguration rein natürliche
oder anthropogen beeinflußte Formierungs-
vorgänge ursächlich sind, bleibt zunächst da-
hingestellt.) Sie (die Landschaft) scheint in
diesem Prozeß der praktischen und ideellen
Aneignung, der zu einem Eigenbild, einer
Vorstellung führt, aber auch gleich wieder in
Verlust zu geraten - wie gewonnen, so zer-
ronnen: ,Landschaft' als Bild und Vorstellung
ist Ausdruck und Produkt der Entfremdung
von jener Konfiguration, deren subjekt-
bezogene ideelle Kostümierung sie ist. Beson-
ders deutlich wird dies an Bildern von Ideal-
Landschaften und an Landschaftsutopien. Die
bei Landschaftshistorikern übliche Differen-
zierung in Ur-, Kultur- und Industrieland-
schaft meint einen einseitig geo- und biolo-
gischen Landschaftsbegriff und unterscheidet
nur nach dem Grad der anthropogenen Über-
formung von ,ursprünglicher' Landschaft, das
heißt von ,Natur'. (Daß hier auch der Natur-
Begriff ein statischer ist, verdeutlicht schon
ein Blick auf die ,Naturgeschichte' eines kon-
kreten Ortes wie dem Geiseltal.)

Lucius Burckhardt schreibt:"Die Veränderun-
gen der Natur werden ... wahrgenommen
unter dem Bild der ,Landschaft'; das Bild der
Landschaft als historisches Konstrukt im Kopf
des Menschen bestimmt sein Verhalten und
seine Maßnahmen, die ... irreversibel sind und
geschichtsschaffend wirken." Anders ausge-
drückt: Die Menschen produzieren und trans-
formieren die Landschaft als auch ihre Vor-
stellungen und Bilder von ihr. Die physische
Basis, sozusagen die ,hard ware' der Land-
schaft ist quasi unsichtbar, das heißt seman-
tisch irrelevant. „Environments are invisible."
zitiert Burckhardt Marshall MacLuhan. Erst
ihre Semantisierung, das Produzieren und
Projizieren von Bedeutungen schafft die
Landschaft.

Die Geschichte der Landschaft ist zwar zu-
nächst die Geschichte der menschlichen Ein-
griffe in geologisch-biologische Strukturen,
vor allem aber die Geschichte der Wahrneh-
mung, Reflexion, Konzeption und Abbildung
von Landschaft. Diese Vorstellungsbilder ge-
dachter Realität haben nicht in erster Linie
reflexiven, widerspiegelnden, sondern

imaginativen und vor allem virtualen Charak-
ter, das heißt, sie besitzen eine Potenz zur
Veränderung der Realität ,nach ihrem Bilde'.

Doch es wird Zeit, sich an unseren Zielort zu
begeben. Auf ins Geiseltal! Für Ortsunkun-
dige: Es handelt sich um ein Areal südwest-
lich von Merseburg, das internationale Be-
rühmtheit erlangt hat durch einen nirgend-
wo sonst vorhandenen Reichtum an Fossil-
funden aus dem Eozän, einer 50 Millionen
Jahre zurückliegenden erdgeschichtlichen
Epoche. Die Funde wurden gemacht während
des einige Jahrzehnte dauernden Abbauens
von Braunkohle. Sie ermöglichten die detail-
lierte Rekonstruktion einer konkreten
,urlandschaftlichen', naturhistorischen Kon-
figuration.

Am Ort angekommen, müssen wir erschrok-
ken feststellen, daß es kein Geiseltal gibt. Es
finden sich nur wenige Indizien dafür, daß
etwas, das man so nannte, ungefähr zwischen
der letzten Eiszeit und dem frühen zwanzig-
sten Jahrhundert existiert haben muß: Ein
sanftes, fruchtbares Tal mit einem Flüßchen,
kleinen Ansiedlungen. Fleute finden wir hier
nur ein riesiges Tagebaurestloch.

Im Eozän existierte ein subtropischer üppiger
Wald, sehr feucht und sumpfig, mit einer Flo-
ra und Fauna, die an heutige Gegebenhei-
ten in Malaysia, Indien oder Kuba erinnert,
aber auch Formen enthielt, die sich seitdem
evolutionär stark verändert haben. Das stete
Wachsen, Absterben und Ablagern von orga-
nischer Substanz, das zusätzliche Heranfüh-
reri von Treibholz u.ä. durch Flüsse, das Ver-
sumpfen, Abdecken mit Sedimenten, geo-
physische Bewegungen, hydrogeologische
Vorgänge usw. haben die Fossilisation einer
Naturepoche und extreme Veränderungen
von Klima, Topographie und Vegetation ver-
ursacht, bevor menschliches Agieren in die
Kausalzusammenhänge dieser Prozesse ein-
zuwirken begann. Die jeweils aktuelle, die le-
bendige Welt tobte ihr Fressen-und-Gefres-
sen-Werden auf den abgelagerten und zu-
gedeckten Resten der Vorgänger-Welten aus
und war immer ein wenig anders: Vor 50 Mil-
lionen Jahren maßen die Pferde 40 Zentime-
ter Schulterhöhe und sie hatten sich an der
Tränke vor Krokodilen in acht zu nehmen.
Tapire, Affen und Großkatzen waren irgend-
wann verschwunden, das Klima wurde rau-

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