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Deutscher Wille: des Kunstwarts — 29,1.1915

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Heft 1 (1. Oktoberheft 1915)
DOI Artikel:
Stapel, Wilhelm: Muß es Wucher geben?
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https://doi.org/10.11588/diglit.14291#0029

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retisch kein Grund vor, sie nicht durch den Staat geltend zu machen. Wir
hatten dann eben neben Schul» und Wehrpflicht die allgemeine „wirt«
schaftliche Pflicht". So gut, wie der Staat von mir die Preisgabe des
Lebens fordert, kann er von mir hundert Mark fordern zu sittlichen Auf-
gaben. Warum muß ich jenes umsonst geben, während diese mir mit fünf
Mark Zinsen abgekauft werden? Und bin ich gehalten, für meine Mit-
bürger das Leben hinzugeben, warum nicht auch, für sie auf einen Gewinn
zu verzichten? Die „wirtschaftliche Pflicht" würde fordern: Teile von
deinen Gütern dem Bedürftigen mit, wessen er bedarf, fordere für deine
Ware keine höheren Preise, als die durch deine Arbeit gerechtfertigt sind.
Aber gerade das wäre die Umkehrung der gesamten geltenden Wirtschafts»
ordnung. Denn ihre Seele ist nicht das Pflichtgefühl, sondern die Lust
am Gewinn. Und solange nicht das Pflichtgefühl zu einer unwiderstehlich
treibenden Lebenskraft geworden ist, würde unser Wirtschaftsleben ver-
kommen, wenn man die Triebfeder der rastlosen Selbstsucht aus ihm aus«
schaltete. Aber ist es denn unmöglich, daß das Pflichtgefühl in der Mensch«
heit wächst? Gerade Erlebnisse wie dieser Krieg lassen es doch gewaltig
aufschießen.

Eben durch diesen Krieg ist die moderne kapitalistische Wirtschaftsord-
nung, die auf Selbstsucht gegründet ist, zum erstenmal in der Weltgeschichte
vor eine wirklich ernsthafte Prüfung gestellt worden. Sie, die bisher ganz
selbstverständlich „die" Ordnung war, hat den Kampf ums Dasein zu bestehn.
Nicht sowohl in England und Frankreich als in Deutschland. Das Deutsche
Reich — als ein dicht besiedelter moderner Weltstaat, der plötzlich vom
Weltverkehr abgeschlossen und wirtschaftlich in seine eigenen Grenzen zu-
rückgedämmt ist — befindet sich ungefähr in der Lage, in der die Mensch-
heit sich einmal befinden würde, wenn die gesamte Erdfläche soweit be-
siedelt wäre, daß kein Aberschuß an Nahrungsmitteln mehr erzielt werden
könnte. Das Deutsche Reich sammelt jetzt die wirtschaftlichen Erfahrungen,
die einst vielleicht der ganzen Menschheit bevorstehn. Wird unsre Erkenntnis
ausreichen, die Lösung zu finden, und unsre Tatkraft, sie durchzuführen?

Die wirtschaftliche Lage ist diese: Es sind soviel Mittel vorhanden,
wie die Bevölkerung zu ihrem Leben bedarf, nicht, wie einst, unbegrenzt
viel mehr. Der Wettbewerb von seiten des Angebots ist also in gewisser
Weise aufgehoben. Die wirtschaftliche Aufgabe ist nun, jene Mittel
so zu verteilen, daß das Volk dabei bestehn kann. Löst der Kapitalismus
diese Aufgabe, kann er sie lösen? Was wir bisher erlebt haben, spricht
dagegen. Die erste Wirkung des Krieges in unserm wirtschaftlichen Leben
war: auf seiten der Käufer ein Ansturm auf die Läden, jeder suchte an sich
zu kaufen, soviel ihm nötig schien, ohne Rücksicht darauf, ob er seinen
Nebenmenschen schädigte. So entstanden örtliche Teuerungen. Auf seiten
der tzersteller und Verkäufer setzte ein Zusammenraffen und Zusammen»
halten von allerlei Waren ein, die in absehbarer Zeit knapp werden würden.
Man erwartete, bei erhöhtem Preise später ein größeres Geschäft zu machen
— was hatte man sich um die Käufer zu kümmern? „Sehe jeder, wo er
bleibe!" Wenige Warengruppen sind dem Schicksal entgangen, durch diese
Spekulation verteuert zu werden.* Drittens setzte ein Aufschlag fast aller

* Lin Beispiel der Warenzurückhaltung: Als die Steinölpreise so hoch wur-
den, daß man sich entschloß, tzöchstpreise festzusetzen, und als man, um die
Verkäufer nicht zu schädigen, Ausnahmen für größere Steinölvorräte machte,
 
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