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Deutscher Wille: des Kunstwarts — 29,1.1915

DOI Heft:
Heft 2 (2. Oktoberheft 1915)
DOI Artikel:
Natorp, Paul: "Wissenschaftlicher Pazifismus"
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https://doi.org/10.11588/diglit.14291#0066

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Wer teilte nicht den Wunsch, dcrß doch Friede wieder einkehren möchte
in die zerrissene Welt? Wer, der nicht alles Menschengefühl in sich ab-
getötet hat, könnte stumpf sein gegen das namenlose Elend, blind gegen die
ungeheure Gefahr, die dieser Krieg einschließt nicht bloß für den Fortschritt
der menschlichen Kultur, nicht bloß für ihre Erhaltung auf der bisher er«
reichten Höhe, sondern für ihren Fortbestand überhaupt? And so macht
man sich Gedanken über Gedanken, wie dem nicht mehr bloß drohenden,
sondern in unheimlicher Gegenwart uns bedrängenden Anheil zu steuern,
wie für die Zukunft wenigstens seine Wiederkehr zu verhüten sein möchte.
And da man sich Abhilfe von allen Schaden der Menschheit von der Leitung
der Wissenschaft verspricht, so richtet sich naturgemäß an sie die Frage, was
sie für den Frieden der Völker Förderliches beizubringen vermöge. Es
entsteht die Forderung eines „wissenschaftlichen Pazifismus^, „pazifistischer
Wissenschaft«.

Da will nun sogleich ein formales Bedenken sich nicht zurückweisen
lassen. „Pazifistische Wissenschaft^ ist ebenso ein Anding wie theistische oder
atheistische, klassizistische oder modernistische, oder überhaupt irgendein —is-
mus als Wissenschaft. Wissenschaft hat nicht voraus Partei zu nehmen,
für sie gilt nur Arbeit an Problemen, die jeder denkbaren Lösung sich offen-
hält, keine vorwegnimmt. Also man rufe die Wissenschaft auf zur Anter-
suchung der Möglichkeit, zu dauerndem Völkerfrieden auf Grund zwischen-
staatlicher Organisation zu gelangen, aber stelle nicht das Programm „pazi-
fistischer Wissenschaft^. Vielleicht war es nur so gemeint. Aber das Schlag-
wort ist irreführend.

Es ist aber auch aus ernsterem, sachlichem Grunde abzulehnen. Kann
man überhaupt Frieden „machen"? In einem Sinne wohl: ein übermäch-
tiger Staat oder eine Staatenvereinigung kann sich zum Ziele setzen, andere,
ihrem Willen nicht gefügige Staaten niederzuwerfen zum Nichtwiederauf-
stehn. Das hieß „Pazifizieren^ dem Eroberervolk, das dies Wort geprägt
hat, dem Volke der Römer. And nichts andres bedeutet es den Eroberern
aller Zeiten, so heute Rußland, Lngland und wer es diesen gleich und
zuvortun möchte. Aber eben das führt nicht zum Frieden, das ist es viel-
mehr, was auch dem friedliebendsten Volke, wenn es nicht ganz entnervt ist,
schließlich die Waffen in die tzand zwingt. Das müßte vor allem aus der
Welt geschafft sein, wenn je Friede werden sollte. Vermag man das? Glaubt
man anders als durch Gewalt den Willen zur Gewalt brechen zu können?
Dieser Wille besteht nun einmal, und das nicht seit gestern oder vorgestern,
sondern so weit das Gedächtnis der Menschheit zurückreicht. Es ist leicht,
sich in Gedanken über diese harte Tatsache hinwegzusetzen, aber diesen Er-
oberungswillen, der in einer Kette ungeheurer Erfolge den größten Teil
des Erdkreises bereits unter die Gewalt weniger mächtigster Staaten ge-
zwungen hat, zu brechen, das vermögen nicht die entrüstetsten Kundgebungen,
nicht das aufrüttelndste sittliche Pathos, nicht der feierlichste religiöse Ernst
der Predigt, nicht die überzeugendste wissenschaftliche Beweisführung, das
vermag üur Kraft, Gewalt, mit einem Wort: Krieg. Nur mit der stärkeren
Waffe in der tzand darfst du dem, der bewaffnet über dich herfällt, zurufen:
„Die Waffen nieder!" Sonst ist es, wie wenn du in den tosenden Orkan

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