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Deutscher Wille: des Kunstwarts — 29,1.1915

DOI Heft:
Heft 2 (2. Oktoberheft 1915)
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Stapel, Wilhelm: Die Polenfrage
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https://doi.org/10.11588/diglit.14291#0088

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der zweite " einige Monate vor dem Krieg. Schade, daß der dritte
Band, der für uns jetzt sehr wichtig wäre, noch aussteht.

Der erste Band schildert uns die Verwaltungs« und Wirtschaftsreforrnen,
die Rußland nach dem letzten nationalpolnischen Aufstand von im
Zartum Polen einführte, ferner gibt er einen Äberblick über das agrarische
und industrielle Wirtschaftsleben bis zum Herbst führt also bis an
die Zeit der russischen Revolution heran. Wir sehn, wie in dieser Zeit
„ein vollständig ünabhängiges polnisches Wirtschaftsgebiet mit eigner Or«
ganisation entstehen konnte, die fast nur durch das Handelskapital mit dem
russischen Wirtschaftsgebiet verbunden ist". Der zweite Band gibt die
politische Geschichte von bis s883, die sich auf jenem wirtschaftlichen
Untergrund abspielt. <Ls ist ein wunderliches Ringen nationaler Phan«
tastik und realpolitischer Berechnung. Mit Recht behandelt Cleinow im
ersten Kapitel Adam Mickiewicz und sein Epos „Konrad Wallenrod" be«
sonders ausführlich. Denn hier haben wir den Schlüssel zum Verständnis
der politischen Psychologie der Polen, die uns Deutschen so fremdartig
erscheint: als eine Mischung von Romantik und Machiavellismus, und
von Hier aus lassen sich sowohl die Aufstandspläne wie die Versöhnungs-
politik gegenüber Rußland verstehn. Man nimmt aus diesem Werk den
Eindruck mit: wie unzulänglich ist dieser mannigfaltig bewegten Welt gegen-
über, in der doch überall der eine Rhythmus der Sehnsucht nach einem
freien Polen spürbar ist, all der kleine Siedelungs« und Anterdrückungs-
kampf, hier ist die Spannung zwischen Ideal und Wirklichkeit nur durch
Katastrophen und durch die wiederaufbauende Kraft eines gewaltigen orga«
nisatorischen Willens erreichbar.

Es scheint, die Polen haben den Neubau ihrer Einheit in der Mehrzahl
von Rußland aus erwartet. Zum wenigsten sehr viele glaubten, wenn das
polnische Volk insgesamt unter der russischen Herrschaft gesammelt sei, durch
die Wucht ihrer Menge und durch ihre wirtschaftliche Bedeutung allmählrch
eine immer größere Freiheit erringen zu können. Daneben gab es freilich
auch andre Strömungen. Rnd ein gewisses Maß von tzaß gegen den
russischen Unterdrücker war vielleicht auch in den russenfreundlichen Kreisen
da, wenngleich halb in die Vergessenheit gedrängt. Iedenfalls läßt sich
von irgendeinem leidenschaftlichen Zug zu Rußland nichts spüren, Rußland
bleibt immer nur Mittel zum Zweck. Run hat die diesjährige Wendung
des Krieges andre Möglichkeiten der polnischen Freiheit nähergerückt
und die tzoffnung auf eine Vereinigung aller Polen unter Rußland fast
zuschanden gemacht. Sofort nach dem Fall von Warschau erhob sich daher
die österreichische Richtung der Polen, die sich seit Ianuar in der
Wochenschrift „Polen" ein politisches Organ deutscher Sprache geschaffen
hat, und stellte bestimmte politische Forderungen: ein Polenreich unter
Habsburgischer Krone. Das Deutsche Reich und sein Anteil an der Polen«
frage wurde dabei in auffallender Weise übergangen. Nur vereinzelt ließen
sich unter den preußischen Polen realpolitische Stimmen hören, welche
die Wichtigkeit der reichsdeutschen Absichten für die Zukunft Polens be-
tonten. Die russischen Polen halten sich zurück — wissen sie doch nicht,
ob sie wirklich für immer der Russen ledig sind, und lassen sich doch die
wirtschaftlichen Interessen, die nach Osten gehn, ebensowenig vergessen
wie die alten tzoffnungen, die nicht nur die österreichischen, sondern auch
die deutschen Polen mit umspannte. tzat man doch die Bevölkerung in
Lodz vor allerlei abenteuerlichen Plänen und Umtrieben gegen die Deut-
 
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