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Deutscher Wille: des Kunstwarts — 29,1.1915

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Heft 3 (1. Novemberheft 1915)
DOI Artikel:
Natorp, Paul: Geschichtsphilosophische Grundlegung für das Verständnis unsrer Zeit
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https://doi.org/10.11588/diglit.14291#0131

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Sache der Menschheit, die doch nur eine sein kann, sich so verschieden an-
sieht? Und gibt es keine Möglichkeit, objektiv zu entscheiden, auf welcher
Seite das Recht der Menschheit wirklich liegt?

Antwort: Line Menschheit ist noch gar nicht, sondern sie soll erst werden.
Aus der hartesten Dissonanz soll der um so tiefere Einklang erst gewonnen
werden. Denn es ist in der Tat Eines, das in sich selbst sich entzweit, um
aus der Entzweiung zur tieferen Einheit zusammenzustreben. Darin ahnte
schon der alte Heraklit das Grundgesetz der großen Symphonie der Ge»
schichte, und erkannte darin die Rechtfertigung des Krieges, als „Vaters
von allem". Keiner all der Versuche in der „Theodizee^, die in Hegels
Geschichtsphilosophie gipfeln, hat etwas andres sein können als eine Ab--
wandlung dieses einzigen Grundgedankens. Damrt aber ergibt sich auch
ein absehbarer Weg der Entscheidung, wo das Recht der Menschheit liegt:
wenn etwa jene Differenzierung des Einen und jenes Zurückstreben zum
Akkord einen innerlich notwendigen Stufengang der Menschheitsentwicklung
begründet, und wenn die geschichtlichen Rollen der Völker srch bestimmen
nach dem Anteil an der gemeinsamen Aufgabe, der, je für eine einzelne
Epoche der Menschheitsentwicklung, dem einzelnen Volke vorzugsweise zu-
fällt. Es ist dies einigermaßen ähnlich dem Wege, den Lessing einschlug,
als er die in der Geschichte miteinander streitenden Religionen als eben-
soviele Stufen der „Erziehung des Menschengeschlechts" deutete. Rach dem«
selben Prinzip unterschied umfassender Hegel die Lebensalter der Mensch-
heit, deren wechselnde und wachsende Aufgaben zugleich wechselnd anderen
Völkern oder Gruppen von Völkern zufielen.

Aber man muß noch um eine Stufe weiter zurückfragen: Woher über«
haupt Geschichte? Woher ein Geschichtsbewußtsein? Wie entkeimt der
Gedanke des Weltdramas „der^ Geschichte, dessen tzeld, nach tzerder, „die
Menschheit im ganzen und großen" ist? Aus der Idee des Dramas müßte
die Verteilung der Rollen auf die Personen des Dramas, die einzelnen
Völker, sich verstehen lassen, und danach würde ihre historische Individualität
sich bestimmen.

Die Lösung all dieser gewaltigen Aufgaben hängt zuletzt an einer einzigen
Voraussetzung, der der Kontinuität des Bewußtseins: Richts verliert sich,
nichts steht für sich, sondern von allem zu allem führen verbindende FLden.
Das heißt Bewußtsein. „Natur tut keine Sprünge": das gilt nur über«
tragenerweise von der äußeren Ratur, ursprünglich und eigentlich von der
Natur des Geistes. Das Bewußtsein springt nicht, sondern entwickelt sich
und allen seinen Gehalt in stetigen Linien des Fortschritts, knüpft Zusammen»
hang nach allen, unendlichen Richtungen und Dimensionen, strebt von aller
Besonderung hinauf zur Einheit, zur Vereinheitlichung; einer Einheit, die
die Sonderheit nicht zunichte macht, nur sorgt, daß sie nicht Ablösung,
Trennung wird oder bleibt. So gibt es, ideal genommen, überhaupt kein
isolierbares Einzelnes im Bewußtsein und keinen isolierbaren Einzelnen,
so wenig wie unterschiedslose Allgemeinheiten, sondern unendlichen Zusam»
menhalt in unendlicher Wandlung, die nur Abwandlung aus gemeinsamem
Arsprung ist. Daher bedeutet die Höchste Individualität, der höchste Reich»
tum der in unendlicher Abwandlung sich entwickelnden Eigenart, zugleich
höchste Aniversalität, Tiefe und Allseitigkeit des geistigen Zusammenhangs.

So im Fdeal. Aber so beherrschend und in aller unerschöpflichen Man-
nigfaltigkeit einheitlich dies Grundgesetz sich auswirkt — empirisch, das
heißt in der zerlegenden Betrachtung der vorliegenden Einzelerscheinungen,

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