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Deutscher Wille: des Kunstwarts — 29,1.1915

DOI issue:
Heft 3 (1. Novemberheft 1915)
DOI article:
Natorp, Paul: Geschichtsphilosophische Grundlegung für das Verständnis unsrer Zeit
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https://doi.org/10.11588/diglit.14291#0133

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herleitet: so Dichtung wie Technik, Wirtschaft, Rechts- und Staatsord«
nung, Berufe, Volkssitten, Erziehung, Wissenschaft, zuhöchst Philosophie,
die, so wie sie hier beschrieben wird, nichts andres ist als das Einheits»
bewußtsein in diesem allen, seine Zurückbeziehung auf ein letztes, über-
räumliches, überzeitliches Gesetz, das doch stets zugleich auf die zeit«
räumliche Lntwicklung bezogen bleibt, denn das Ziel der „Liebe" (das
heißt des Einheitsstrebens) ist nicht das bloße Erschauen des Schönen
(der Einheit selbst), sondern das Erzeugen im Schönen — das Kultur»
schaffen, würden wir sagen. Die Größe des Schritts, den hier das Mensch«
heitsbewußtsein in dem vielleicht schöpferischsten Geiste, der je gelebt hat,
vollbringt, ermißt sich daran, daß diese in klassischer Einfachheit sich gebende
Deduktion nicht nur in sich selbst das voll erwachte, fast restlos allseitige
Bewußtsein dessen, worin „Kultur" allgemein besteht, woraus sie all-
gemein entsteht und worauf sie allgemein hinauszielt, zu sicherem Aus»
druck bringt, sondern auch die entscheidenden Stufen des Bewußtseins
bis zur höchsten, der des Selbstbewußtseins, als Bewußtseins des Be-
wußtseins („Philosophie"), deutlich auseinanderstellt. Das hat kein Nach«
folgender überbieten, haben auch die Tiefsten nur aufnehmen und aller«
dings, im tzinblick auf das umfassendere Material, das ihnen zu Gebote.
stand, reicher und vielgestaltiger durchführen können.

Eben zufolge des Gesetzes der „Mneme" aber lösen nun die Stufen
der Kultur nicht bloß in zeitlicher Aufeinanderfolge sich ab, es wird nicht
durch die spätere die frühere einfach ausgelöscht, sondern indem die höhere
Stufe erstiegen wird, bleibt zugleich die niedere, so daß nach analoger
Abstufung im Nebeneinander wie im Racheinander die Kulturformen —
so wie in der äußeren Natur die drei „Reiche", und wieder in jedem die
Arten aller Entwicklungsgrade — sich ordnen. So versteht es sich, daß,
wie in einer Nation verschiedene Schichten, in jeder von diesen mannig-
fache Unterschichten und zuletzt die Individuen, so im Ganzen der Mensch«
heit verschiedene Völker ihrem durchgehenden Grundtypus nach verschie-
dene Kulturstadien in sich darstellen. And zu je höheren Stufen die Ent«
wicklung aufsteigt, um so schroffer treten diese Schichten sich gegensätzlich
gegenüber, um so schärfer entwickelt sich unter ihnen, innerlich und äußer«
lich, der Streit. Zwar ist es zu viel gesqgt, daß er der Schöpfer von
allem sei, aber „Vater" mag er mit Fug genannt werden, sofern er es ist,.
der die im zeugenden Schoß der Menschheit schlummernden oder erst
aufdämmernden Kräfte erregt und zum Schaffen, zum Sichanslichtschaf-
fen zwingt. Tatsächlich sehen wir überall mit der Energie des Streits
die Energie des Schaffens in genauem Wechselverhältnis sich entfalten:
die mächtigere Schöpfung hat die Härteren Kämpfe zu bestehen, ehe sie
sich durchsetzt, und der Kampf selbst hilft die Höchsten Kräfte, indem er sie
in Anspruch nimmt, entbinden. Er verbraucht, zerstört also Kräfte, aber
befreit durch die Zerstörung wiederum neue, bisher gebundene, und hilft
so durch die Zerstörung selbst, also freilich nur mittelbar, zur Schöpfung.
Alle Schöpfung zerstört auch, nicht im absoluten, aber doch in dem Sinne,
daß sie in seiner Sonderheit verneint, auflöst, überwindet, was sie als :
Stoff in die neuartige Gestaltung Hineinzwingt. Also ist der Streit nicht
die Ursache, wohl aber ein vollgültiges Symptom der Schöpfung.

tziermit ist die Grundlage gewonnen. Nnd nun dürfte man vielleicht
mit vollem methodischen Recht unternehmen, von der bis dahin erreichten
Entwicklungshöhe rückwärts die Stufen zu rekonstruieren, die bis zu dieser-
 
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