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Deutscher Wille: des Kunstwarts — 29,1.1915

DOI Heft:
Heft 4 (2. Novemberheft 1915)
DOI Artikel:
Natorp, Paul: Volkstum - Deutschtum
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https://doi.org/10.11588/diglit.14291#0176

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diese bestimmte Art der Mneme, deren Möglichkeit und Forderung über-
haupt im Menschentum uranfänglich lag, daher mehr oder weniger überall
in der Menschengeschichte sich erkennen läßt, nun gerade an dieser Stelle,
im Herzen Europas, sich besonders ausprägte, sich zuerst und für die andern
wegleitend durchsetzte, so daß sie in der „Kultur" eines ganzen Volkes, ge-
wiß vielfach noch dunkel tastend, aber doch in allseitig einheitlicher Richtung
ganz entschieden sich ausspricht? Dafür mag man nun mancherlei äußere
Bedingungen verantwortlich machen; vor allem die zentrale Lage, die durch
die Wanderungen der Völker uns zuletzt verblieb, in der Mitte eines nicht
übergroßen, aber stärkst differenzierten (Lrdteiles; eine Lage, die uns von
Anfang und bis heute zum Kampfe zwang, zur inneren ebensosehr wie
äußeren Auseinandersetzung mit allen feinsten, bis dahin erreichten Diffe«
renzierungen des Menschengeistes, dabei uns doch nie in sie uns verlieren,
sondern stets zur zentralen Linheit in uns selber wieder zurückstreben
ließ. So waren und blieben wir immer angewiesen auf härteste und inner«
lichste Arbeit, auf oft verzweifelten Kampf nicht des Arms allein, sondern
mehr noch des Kopfes und tzerzens, und so genötigt, jede verborgenste
Kraft in uns herauszuarbeiten und in beständigem, gefährlichstem Einsatz
zu bewähren. Daran ist nichts, oder, wenn man lieber will, alles ,,my»
stisch"; nicht mystischer aber als überhaupt die Tatsache der Mneme: daß
in dem, was wir Geist und geistig nennen, nichts verloren geht und nichts
auf sich steht, sondern alles mit allem, nicht unter metaphysischen Genera
und Spezies, sondern konkret, in jenem ewig stetigen Äbergang, den wir
Leben oder Bewußtsein nennen, an sich zusammenhängt und zur höchst
bewußten Einheit zusammenstrebt.

Eben darum ist dies deutsche „Wesen", wie schon gesagt, nichts in sich
Geschlossenes, Fertiges, sondern ewig im Werden. Das haben alle unsere
Großen wie aus einem Munde erklärt, das drückt sich übereinstimmend
aus in unserem künstlerischen und philosophischen, unserem Geschichts-,
Bildungs« und Erziehungsgeist, welches alles auf ewige Genesis aus
ewigem Urquell, nicht auf ein abgeschlossenes, auf ein Fertig-Sein deutet.
Beweisen kann das freilich keine Wissenschaft oder Metaphysik, beweisen
kann es sich nur, so wie Gott sich beweist: durch Tat und Leben. Und
wenn an diesem „deutschen Wesen^, wie wir so kühn überzeugt sind,
dereinst „die Welt genesen", wenn „der Tag des Deutschen die Ernte der
ganzen Zeit" sein soll, so besagt das, wie unser „Deutschland, Deutschland
über alles", nicht, daß wir es den andern von außen her aufdringen
wollen. „Es ist nicht draußen, da sucht es der Tor" — hat man das nie
gehört? Sondern „es ist in dir, du bringst es ewig hervor". In uns
selbst vor allem wollen wir es hervorbringen und ihm zum Siege helfen.
Denn daß unser deutsches Volk etwa schon ganz davon durchtränkt wäre,
daß wir in allen Volksgenossen, in diesem höchsten Sinne, schon jetzt „nur
noch Deutsche" erkennen dürften, das können oder wollen wir ja nicht be-
haupten. Es „ist" in uns, aber nur in dem Sinne, daß, es ewig hervor»
zubringen, die Einsehenderen unter uns als Aufgabe begriffen haben. Ie
- reiner uns das gelingt, um so mehr wird es, innerlich erobernd, dann
auch die andern ergreifen und unvermerkt, ungewollt in sie hineinwachsen»
wie es in manchem schon jeht spurenweise sich erkennen läßt. tzeute aber
muten oder trauen wir das keinem zu, heute dürfen wir kein andres Ziel
kennen als: erst einmal selber Deutsche (in diesem höchsten Sinn) sein,
Deutsche werden, Deutsche bleiben zu wollen. Wir sind es, wie wir es

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