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Deutscher Wille: des Kunstwarts — 29,1.1915

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Heft 4 (2. Novemberheft 1915)
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Vom Heute fürs Morgen
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https://doi.org/10.11588/diglit.14291#0202

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tausendfältigein Sein, den Keimen
seiner Ahnen, deren sich jeder
an ihm offenbaren kann. Dein
Kind gehört weder dir noch seinem
Vater — es gehört einzig und allein
sich selber und muß sein Vorbild und
sein Schicksal aus eigener Seele
graben. ^

^o wie dein Kind einst mit Schmer-
>2zen sich von deinem Leibe löste, so
muß es dereinst auch vom Geist und
Wesen der Eltern Abstand gewinnen
und andern Geistes Einfluß in sich
aufnehmen. Es soll, es darf nicht
ein Teil deiner selbst bleiben; sonst
verkümmert es wie die Frucht, die
der Baum nicht freigab zur rechten
Zeit. Was reif wird, fällt ab und
sucht eigenen Boden.

<-^zetrachte dein Kind nicht als dei-
^vnen Schuldner. Was du an ihm
getan, ist dir vorausbezahlt von dei«
nen Eltern. Deine Kinder schulden's
nicht dir, sondern wieder ihren
Kindern. Was du erntest an Liebes«
freude, nimm es als freies Geschenk
obendrein. Dein Enkel wird ein«
fordern, was du deinem Kinde zu-
gewendet; entbehren, was du ver-
säumtest; rächen, was dein Kind an
dir versäumte. Durch ihn wird dein
Kind hineinschauen lernen in dein
tzerz und dich verstehen.

tzedwig Bleuler-Waser

Rolland und der Kunstwart

^ch werde gefragt, ob Romain Rol--
Oland auf meinen „Offenen Brief"
im zweiten Iulihefte geantwortet
habe. Ia, er hat das in einem langen
und ergreifenden Briefe getan. Aber
er hat mich zugleich gebeten, von
der Veröffentlichung dieses Briefes
abzusehn.

Dem habe ich mich zu fügen. Ich
würde schon gegen den Sinn von
Rollands Wunsch handeln, wenn ich
über den Inhalt seiner Antwort auch
nur Andeutungen machte. Dessen
aber können unsre Freunde gewiß
sein: auch in Frankreich leben Den-
kende, und nicht ganz wenige, deren
Geist von der Durchschnitts-Presse
von heute durchaus nicht gespiegelt
wird. A

An die Hinterbliebenen

^v^er die tzeimgegangenen nicht
^-^lassen will, der besinne sich auf
das, was nicht im Tode verloren^-
geht, sondern durch ihn nur ent»
bunden wird, der lebe in der Fremde
aus der Mitgift der tzeimat, der
suche das Ienseits im Diesseits und
erfülle seine kleine Welt mit der
Luft und Sonne des Vaterhauses,
der werde ein Kämpfer für das Reich
Gottes auf der Erde. In dem Maße
als uns das gelingt und wir uns
überall in dem befinden, was des
Vaters ist, stehen wir in Zusammen-
hang mit den geliebten Menschen,
die vor uns heimgingen. Aber das
ist ja die merkwürdige Beobachtung,
daß die tzinterbliebenen viel lieber
in Erinnerungen wühlen, statt sich
von den Gräbern der Vergangenheit
zu erheben und den tzeimgegangenen
dahin entgegenzugehen, wo wir sie
allein antreffen. Wenn wir sie nicht
in uns untergehen lassen, können sie
nicht in unsrer Seele auferstehen.
Lassen wir aber alles Irdische von
ihnen zerfallen, so lebt das Anver-
gängliche, das in ihnen verborgen
war und nun frei geworden ist, in
uns auf, und sie leben mit uns fort
auf die einzige Weise, wie es vor-
läufig möglich iff.

Iohannes Müller

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