Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Deutscher Wille: des Kunstwarts — 29,1.1915

DOI Heft:
Heft 5 (1. Dezemberheft 1915)
DOI Artikel:
Brandes, Friedrich: Richard Straußens "Alpensymphonie"
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.14291#0231

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
seiner früheren Tondichtungen. Die Klarheit seiner künstlerischen Dis-
ponierungen war schon immer bemerkenswert, hier geht sie bis zum Volks-
tümlichen. Die etwa fünfzig Minuten dauernde Symphonie schildert in
einem Satze einen Tag im Hochgebirge. Die Äberschriften in der Partitur
lauten: „Nacht, Sonnenaufgang, Der Anstieg, Eintritt in den Wald,
Wanderung neben dem Bache, Am Wasserfall, Lrscheinung, Auf blumige
Wiesen, Auf der Alm, Durch Dickicht und Gestrüpp auf Irrwegen, Auf dem
Gletscher, Gefahrvolle Ausblicke, Auf dem Gipfel, Vision, Nebel steigen
auf, Die Sonne verdüstert sich allmählich, Elegie, Stille vor dem Sturm,
Gewitter und Sturm, Abstieg, Sonnenuntergang, Ausklang, Nacht." Diese
Disposition ist gewiß gut und einfach, man könnte sie klassisch nennen.
Mit ihr endet aber schon das Volkstümliche. Erstrebt zwar ist es sicherlich
auch in den Themen, die so schlicht und leichtfaßlich sind, daß man sie
längst gekannt zu haben glaubt. In der Hauptsache sind es: ein Ton-
leiterthema, das sogar als Tonleiterakkord (sämtliche Töne der B-Moll«
tonleiter nebeneinander) nachdenklich machen möchte, und Themen mit
Quart- und Quintschritten, die man so oder umgedreht, mindestens ver«
blüffend ähnlich, schon von Beethoven über Mendelssohn und Schumann
bis zu Wagner und Bruch gehört hat, auch bei Strauß selber.

Die Musikerfindung der Alpensymphonie ist also nicht bedeutend. Aber
die Meisterschaft in der Behandlung des Orchestersatzes, das Schwelgen in
Klangräuschen, die geniale Ausnützung von Naturlauten (Wasserfall u. a.)
sind auch in diesem Werke bewundernswert, wenngleich sie über den
Komponisten nichts Neues aussagen. Die erwähnte Einfachheit geht natür-
lich auch verloren, wenn man den (einzig in der „Ariadne" verlassenen)
Orchesterapparat bedenkt: vierfach geteilte Streicher, mindestens (8 erste
Violinen usw., Orgel, Celesta, 2 tzarfen, möglichst zu verdoppeln, neben
vier- bis achtfachen Bläsern ein Blechorchester von (6 Mann „hinter der
Szene^. Also das Äbliche bei Strauß. Auch Wind- und Donnermaschine
und Herdengeläute (Mahler) sind schon dagewesen.

Man könnte annehmen, daß bei solchem Massenorchester monumentale
Wirkungen erzielt werden müßten, besonders wenn ein Meister wie Strauß
am Werke ist. Aber dieser hält sich weniger an die stille Majestät der
Natur, als an den nervösen Menschen. Bezeichnend für ihn und seine
Art ist ein Vergleich seines Sonnenaufgangs mit dem Haydnschen: hier
ein stetiges Creszendo bis zum Fortissimo des einfach besetzten, geradezu
durchsichtigen Orchesters und deshalb von gewaltiger Erhabenheit und
leuchtender Gewißheit, bei ihm Ruckungen und Zuckungen bis zur
Entfesselung des gesamten Apparates. Bei Haydn überwältigende
Größe, bei Strauß ungeheures Getöse. Doch das mag daran liegen, wie
er selber die Natur sieht und empfindet. Vielleicht glaubt er, daß auch
die Natur nervöse Anwandlungen hat. Vielleicht ist er auch im Nechte,
wenn er zur Zeichnung der Natur („Nacht") keinen reinen Akkord ver-
wendet, sondern alle Nebentöne der Tonleiter nebelhaft dazwischen setzt,
wenn auch nur in den gedämpften Streichern. Es ist nicht ausgemacht,
ob die „Nacht" im reinen B-Mollakkord ausklingt oder ob mit andauern-
den Nebengeräuschen. Mit einem Worte: ob die Natur rnusikalisch ist.
Da wären Dissertationen zu schreiben über das Wesen der Muslk. Und
wenn alles erörtert ist, wird es noch immer Komponisten geben, die — bei
aller Einfachheit und bei allem geschickten Nachempfinden — durch etwas
Besonderes, Außer- oder Antimusikalisches, auffallen wollen.

175
 
Annotationen