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Deutscher Wille: des Kunstwarts — 29,1.1915

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Heft 6 (2. Dezemberheft 1915)
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Landsberg, ...: Fürsorgeerziehung und Kunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.14291#0283

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suchte sie dort. Dann kam sie mit einem Fünfpfennigstück wieder hervor.
And das Kind entfernte sich still aus dem Raume. —

Acht Iahre später besuchen wir im Geiste die Fürsorgeerziehungs«
anstalt zum Heiligen Vinzenz in Westlack. Schöne Räume, aber kahle
Wände. Die Zöglinge warm, aber eintönig gekleidet. Die Lehrer und
Schwestern unermüdlich freundlich, und doch alles von einem allzu
gemessenen, halbtraurigen Etwas durchzogen, als sei das ganze Iahr
hindurch Allerseelentag. Iakob de Veen hatte es gewagt: er hatte den
Herrn Direktor um etwas gebeten, er, der Ausreißer, er, der Vagabund
und Dieb, er hatte um etwas gebeten. War das nicht der Mut der Ver» .
zweiflung gewesen, der ihm ermöglicht hatte, zu bitten, und gar den Herrn
Direktor selbst zu bitten? E r, über den der Direktor an den Landes«
hauptmann berichtet hatte: von den geistig normalen Zöglingen seiner
Anstalt sei Iakob der schwierigste und hoffnungsloseste. And der tzerr
Direktor hatte ihn groß und erstaunt angesehen, gar nicht unfreundlich
— nur sehr, sehr erstaunt. Als nämlich Iakob das letztemal hatte aus-
reißen wollen, da hatte er sich abends auf dem Balkon vor des Direktors
Privatwohnung versteckt gehabt. Man suchte ihn die ganze Nacht ver-
geblich. Am andern Morgen aber war er wieder da, er war diesmal
nicht entlaufen. Der geistliche Direktor liebte und kannte die Musik,
hatte eine herrliche Stimme; und wenn er abends allein war, überließ
er sich gern eine Weile ihrem Reich. Anter den Stücken, die er gespielt
an jenem Abend, da der Ausreißer auf dem Balkon kauerte, war eines,
das Iakob noch kannte, obwohl er es seit acht Iahren nicht gehört hatte.
Am Nachmittage, während die andern Zöglinge sich draußen tummelten,
nahm der Direktor schweigend seinen merkwürdigen Gast mit in sein
Zimmer, gab ihm einen Stuhl in der Fensternische und musizierte für den
Zögling, nicht ohne ihn erst mißtrauisch, dann mit erstaunter Aufmerk-
samkeit durch kurze aber scharfe Blicke zu beobachten. Wie schön war
auf einmal dieses Knabengesicht! wie frei von all dem, was dem Direktor
vorschwebte, als er an den Landeshauptmann berichtete, wie schwierig

Iakob sei. '

Diese Stunde bedeutete viel: für Iakob, für den Direktor, für die
ganze Anstalt. Es wurde eine Zöglingskapelle eingerichtet, wie sie in
andern Anstalten schon bestand; einzelne Knaben, darunter Iakob, er-
hielten eine gehobene Musikausbildung durch ausgesuchte Lehrkräfte. In
die Räume für die Kleinen stiftete der Direktor Illustrationen zu deutschen
MLrchen, die er selbst zu erzählen Pflegte, der tzolzschnitz« und Zeichen-
unterricht wurde in den Oberklassen stark vermehrt. Ausgewählte Zöglinge
führte der Direktor selbst wiederholt durch die Stätten bildender Kunst
in der benachbarten Großstadt. And als ein befreundeter Richter die
Anstalt besuchte, erzählte ihm der Direktor mit strahlenden Augen von
nie geahnten Erfolgen, die er durch Pflege des rhythmischen Gefühls
bei den Zöglingen erlange. Er zitierte den Rhythmenforscher Karl
Bücher,^ um, unter tzinweis auf die erste Kulturerhebung der Natur-
völker durch die Kunst, die Erfolge des Rhythmischen im Kampf gegen
Indolenz und Energielosigkeit der Zöglinge zu begründen: „Es darf die
Hoffnung nicht aufgegeben werden, daß es gelingen wird, Technik und

* Karl Bücher, „Arbeit und Rhythmus". Aufl. B. G. Teubner, Leip-
zig M9, uud dort zitiert: Platos Protagoras. 326 B.

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