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Deutscher Wille: des Kunstwarts — 29,1.1915

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Heft 4 (2. Novemberheft 1915)
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Ullmann, Hermann: Polen, Juden, Deutsche: hinter der östlichen Front
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https://doi.org/10.11588/diglit.14291#0191

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breiten Bauerntum dieses Lanbes wuchert, ihm ein wenig Verkehr, Handel,
Amlauf der Werte, städtisch-westliche B'ehelfe vermittelt, aber nicht hei--
misch-mitverantwortlich wirken kann. Wie ein solches, von der Mitarbeit
ausgeschlossenes, ewig mißhandeltes und darum notwendigerweise ver-
logenes Stück Mitbürgertum sich entwickelt, sowie der Druck weicht, das
kann man in Galizien studieren; an den Reichgewordenen aus diesen
Ghettos. Da kann sich dann alle Degeneration schnell entfalten, ausbilden
und — erledigen. ^

Kennzeichnend für deü Osten und alle Beteiligten ist das Verhältnis
des Polentums zu den Iuden. Der wüsteste Antisemitismus, der sich
denken läßt, wuchert in giftigen Blättchen, Boykotten und Hetzereien —
der „Erfolg" ist: daß man aus lauter Iudenhaß den altererbten Polen-
schmerz aufgibt und russophil wird. Die antisemitischen Blätter sind zu»
gleich die russophilen. Der Iudenhaß verrichtet dieselben Dienste wie der
Deutschenhaß. Nirgends aber sieht man auch nur den leisesten Ansatz
ßu einer bewußten, durchdachten oder auch nur ehrlich gewollten Förderung
der Iudenfragen. Man denkt an die Behauptung vieler Kenner des
Polentums: dieses scheint wirklich zu versagen, wo es über die ein-
fachen, ursprünglich bäuerlichen Lebens-, Gesellschafts--, Wirtschaftsformen
hinaus in die verwickelteren, modern-städtischen Probleme gerät. Wozu
natürlich noch das systematisch verwirrende und hemmende Wirken der
russischen Regierung kommt.

In einer der größten polnisch-russischen Städte, in der wir ziemlich lange
lebten, geht die einzige Straße vom weit abseits liegenden Bahnhof in
einem sehr großen und lästigen Bogen zum Mittelpunkt. Zwischen der
Stadt selbst und dem Bahnhof liegt eine sumpfige Flußniederung. In
der Stadt gibt's Buchläden, eine Kunsthandlung, die fast ein wenig snobi--
stisch aussieht, Operettentheater, Kinos in Menge, Kaffeehäuser, leidlich
saubere, teure Restaurants, einen hübschen Park. Aber vom Bahnhof
kann man durchaus nicht auf einem geraden Wege, der nicht schwer an-
^ulegen wäre, in die Stadt, man muß den abscheulichen Umweg durch ein
wüst proletarisches Viertel auf einem unsäglichen Pflaster in einer schmie-
rigen Kutsche (eine Straßenbahn hätte sich auch längst gelohnt) zurück-
legen. Das ist bezeichnend. Wozu für das Nächste, für die nüchtern-prak-
tischen Lebensgrundlagen sorgen? Wozu überhaupt für irgendetwas Gan-
zes, für einen Organismus arbeiten? Iede Kraft, jedes Machtzentrum,
jeder Interessenkreis schafft für sich, was er mag; daraus wird irgendein
unzusammenhängendes Gebilde, das sich, wenn's groß genug ist, Stadt
nennt.

Da ist die Altstadt, um die Kirche auf dem tzügel herum; Barockhäuser
in einigermaßen charakteristischen steilen Straßen, etwas wie ein alter
Stadtkern, mit Toren, einem Magistrat, einem Markt, wenn auch nicht
deutlich um einen Mittelpunkt geschlossen. Fast zum größten Teil ge-
sundheitsgefährliches Ghetto. Daran schließt sich ohne rechten Zusammen-
hang die moderne russische Beamtenstadt, mit der russischen Kirche auf
schöner breiter Straße, mit Parks, leidlich sauberen großen Häusern und
polnischer, stark geschminkter Eleganz auf abendlichen Promenaden. And
völlig zufällig hängt daran jenes häßliche proletarische Bahnhofsviertel,
das allen Vorstadtschmuck ohne Ghettoromantik beherbergt und dabei nicht
einmal den Beruf einer Verbindung zwischen der Stadt und dem Bahnhof
erfüllt: zwischen ihm und jener weiden große Viehherden, lungern Schutt-

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