Wilhelm Michel—München :
ARTUR VOLKMANN—ROM.
Gemälde: »Löwenkampf«.
heit jeglicher Beziehung zum Kosmos der
sittlichen Werke entbehren sollten. Schon
die gemeinsame idealistische Grundlage von
Kunst und Sittlichkeit scheint zu erfordern,
dass ihre Welten nicht in feindlicher Ab-
sonderung verharren, dass es eine Grenze
geben muss, wo zwischen beiden die innigsten
Berührungen bestehen. In der Idee der
Schönheit wie in der Idee der Sittlichkeit
wirken die höchsten Kräfte des gesunden
und kultivierten Geistes zusammen. Beide
sind Ausstrahlungen des menschlichen Ver-
hältnisses zur Welt, beide sind so innig mit
der Grundlage aller bewussten animalischen
Existenz verbunden, dass ihnen die höchste
Realität zukommt. Man denke sich im
wunderreichen Weltall einen beliebigen Stern,
auf dem sich organisches Leben zu kristalli-
sieren vermag. Man lasse in diesem Leben
die charakteristische Tatsache des Selbst-
bewusstseins sich entwickeln. Mögen die
so entstandenen Wesen auch Chlorgas atmen
statt Sauerstoff, sie werden dem Chaos gegen-
über dieselben Gegensatzgefühle empfinden
ioo
wie wir und werden gleich uns »Luftbau-
meister mancherlei Gedankenwelten« sein.
Sie werden die Idee der Schönheit kon-
zipieren wie wir, und aus dem tiefsten Ge-
heimnis ihres Lebens heraus wird die Idee
der Sittlichkeit mit der Notwendigkeit der
Naturgesetze hervorspriessen.
Ist daher die Grundlage beider Ideen die
gleiche, so müssen sich auch irgendwo Be-
rührungspunkte zwischen ihnen ergeben. Es
fragt sich nur, welchen Begriff man dem
Worte »Sittlichkeit« unterzulegen hat, um
diese Berührungspunkte zu ermöglichen.
Sittlichkeit — das ist nicht eine An-
häufung praktischer Normen, kein Gesetz-
buch, keine starre Regelsammlung. Die
Ethik ist nicht in erster Linie normativ.
Ihre vornehmste Aufgabe liegt ohne Zweifel
darin, dass die Möglichkeit und Notwendig-
keit der sittlichen Idee ergründet werde.
Schon ein alter Spruch, der durch Schopen-
hauer berühmt geworden ist, sagt: »Moral
predigen ist leicht, Moral begründen schwer.«
Mit der gepredigten Moral lässt sich die
ARTUR VOLKMANN—ROM.
Gemälde: »Löwenkampf«.
heit jeglicher Beziehung zum Kosmos der
sittlichen Werke entbehren sollten. Schon
die gemeinsame idealistische Grundlage von
Kunst und Sittlichkeit scheint zu erfordern,
dass ihre Welten nicht in feindlicher Ab-
sonderung verharren, dass es eine Grenze
geben muss, wo zwischen beiden die innigsten
Berührungen bestehen. In der Idee der
Schönheit wie in der Idee der Sittlichkeit
wirken die höchsten Kräfte des gesunden
und kultivierten Geistes zusammen. Beide
sind Ausstrahlungen des menschlichen Ver-
hältnisses zur Welt, beide sind so innig mit
der Grundlage aller bewussten animalischen
Existenz verbunden, dass ihnen die höchste
Realität zukommt. Man denke sich im
wunderreichen Weltall einen beliebigen Stern,
auf dem sich organisches Leben zu kristalli-
sieren vermag. Man lasse in diesem Leben
die charakteristische Tatsache des Selbst-
bewusstseins sich entwickeln. Mögen die
so entstandenen Wesen auch Chlorgas atmen
statt Sauerstoff, sie werden dem Chaos gegen-
über dieselben Gegensatzgefühle empfinden
ioo
wie wir und werden gleich uns »Luftbau-
meister mancherlei Gedankenwelten« sein.
Sie werden die Idee der Schönheit kon-
zipieren wie wir, und aus dem tiefsten Ge-
heimnis ihres Lebens heraus wird die Idee
der Sittlichkeit mit der Notwendigkeit der
Naturgesetze hervorspriessen.
Ist daher die Grundlage beider Ideen die
gleiche, so müssen sich auch irgendwo Be-
rührungspunkte zwischen ihnen ergeben. Es
fragt sich nur, welchen Begriff man dem
Worte »Sittlichkeit« unterzulegen hat, um
diese Berührungspunkte zu ermöglichen.
Sittlichkeit — das ist nicht eine An-
häufung praktischer Normen, kein Gesetz-
buch, keine starre Regelsammlung. Die
Ethik ist nicht in erster Linie normativ.
Ihre vornehmste Aufgabe liegt ohne Zweifel
darin, dass die Möglichkeit und Notwendig-
keit der sittlichen Idee ergründet werde.
Schon ein alter Spruch, der durch Schopen-
hauer berühmt geworden ist, sagt: »Moral
predigen ist leicht, Moral begründen schwer.«
Mit der gepredigten Moral lässt sich die