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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 17.1905-1906

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Michel, W.: Kunst und Sittlichkeit
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https://doi.org/10.11588/diglit.7136#0104

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KUNST UND SITTLICHKEIT.

Kunst und Ethos bekämpfen einander
seit grauen Zeiten. Sittliche Revo-
lutionäre waren von jeher kunstfeindlich
gesinnt. Wenn Tolstoi, von panischem
Schrecken ergriffen, am Ende eines langen
Künstlerlebens die
Frage aufwirft »Was
ist Kunst?«, wenn er
diese Frage in einer
Weise beantwortet,
dass ganz Europa
darüber lächelt, so
hat er nur dem An-
tagonis zwischen äst-
hetischem und ethi-
schem Streben Rech-
nung getragen. Die
Künstler hingegen,
die Menschen des
grossen Schauens, die
Menschen mit dem
heiligen Hunger nach
Erleben, haben die
logischen und sitt-
lichen Beziehungen
der Dinge von jeher
zu gunsten einer rein
ästhetischen Ausdeu-
tung der Welt ver-
nachlässigt. Noch lie-
gen uns die Streit-
rufe in den Ohren,
mit denen unsere
Kunst in den 8oer
und 90er Jahren ihren
Vormarsch ins Werk
setzte. »Emanzipation
der Kunst von der
Sittlichkeit« lautete
das Thema zahlrei-
cher Abhandlungen,
welche damals die
Spalten unserer Zeit-
schriften füllten. Und wenn jetzt diese
Rufe allmählich verklingen, so liegt der
Grund nur darin, dass die Überzeugung
von der völligen Autonomie der Kunst
gegenüber der Sittlichkeit sich aller Geister

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ARTUR VOLKMANN—ROM.

restlos bemächtigt hat. Die Unabhängig-
keit der Kunst von den Regeln des Sitten-
gesetzes gehört heute zum Abc künstle-
rischer Bildung. Sie ist eine Binsenwahr-
heit geworden, an deren Verbreitung man

keine Tinte mehr ver-
schwendet. Das so
oft gehörte Wort:
»Die Kunst soll nicht,
die Kunst darf nicht,
die Kunst muss/« be-
weist hinlänglich, dass
das moderne Denken,
mit dem Worte jenes
preussischen Königs
zu reden, die Souve-
ränität der Kunst
wie einen rocher de
bronce zu stabilieren
gesonnen ist. Der
Forderungs - Charak-
ter der sittlichen Nor-
men ist es, der sie
mit dem ästhetischen
Streben heute mehr
als je verfeindet hat.
— Kunst und Sitt-
lichkeit sind Gegen-
sätze. — Wie kommt
es aber, dass in eini-
gen Geistern — ich
rede nicht von den
Aposteln der Sittlich-
keits - Kongresse —
immer wieder der
Gedanke an einen
Ausgleich dieses Ge-
gensatzes auftaucht ?
Wie kommt es, dass
sich das Denken,
dem die völlige Tren-
nung des ethischen
und ästhetischen Ge-
bietes zunächst ohne weiteres einleuchtet,
doch wieder gegen die Unversöhnlichkeit
dieser Gegnerschaft wehrt?

Der Gedanke ist in der Tat unerträglich,
dass die höchsten Offenbarungen der Schön-

Plastik: ..Eros-..
 
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