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Die Heu
der Alte pickte und fraß mit den Jungen, daß bald manch'
vornehme Aehre zu einem Strohhalme degradirt war. —
Der dritte Heuschreck thronte auf einem Weidenbaum, — da
rauschte alsbald im gesteiften Kleide eine Erzieherin mit ihren
zwei Zöglingen einher. „Aber, Fräulein Natalie, bleiben Sic
doch auf der Straße, und lachen und schreien Sie nicht so
laut; ernste Sittsamkeit schickt sich für gebildete Leute, und Sie,
Fräulein Clotilde, springen umher, daß ich in Verzweiflung
über Ihren Mangel an Lebensart bin." —
„O Langeweile und Pedanterie; den möchte ich sehen, der
wir verböte, mich laut des Lebens zu freuen, wenn ich die
Lust dazu in mir fühle, und mit den Beinen und Flügeln umher-
zuschlagen!" rief das Heuschrecklein und schlug die hellgrünen
Flügel und Beinchen zusammen, daß es wie trillernde Musik
llang und Lüfte und Blumen davon erziiterten.
Des Abends fanden sich die Freunde wieder in der
Thnukneipe ein und die drei Heuschrecken theilten ihre Erlebnisse
wit. Groß war die Fluth der verachtenden Aeußerungen,
welche nun über das Menschengeschlecht ausgegossen wurden.
• „Ja, ja!" zirpte Pcpito, „das müssen schöne Geschöpfe
sein, diese Menschen! aber was kann man sich auch von Wesen
erwarten, die nur zwei Beine haben!"
„Und ihre Stimme dazu," rief Mastax; „wenn man sie
i» der Nähe vernimmt, möchte man taub werden vor Getöse;
wir geht es durch Mark und Bein, so oft ich einen höre."
„Statt das Gras zu essen, schneiden sie es ab, und
trocknen es!"
„Vandalen mit einem Wort."
„Und erst wie sie mit uns umgehen. Weißt Du noch,
Pepito, wie Einer Deine unglückliche Mutter fing und sic
lebendig an seine Mütze spießte und bei ihrem Gezappel höhnisch
bemerkte, das lebendige Anspießen müssen die Insekten schon
längst gewohnt sein, weil es ein alter Brauch sei."
„Und das nennen sie Entomologie treiben!" meinte Pepito.
„Auch als Fischköder benützen sie uns!"
„Manche betrachten uns sogar als Delikatessen, die Ana-
choretcn zum Beispiel!"
„Silentium!" ertönte plötzlich eine tiefe Stimme. Alle
erkannten Acridius den Weisen; wie durch einen Zauberschlag
berstummte das ganze Geschwirre. Acridius begann also:
„Nun höret auch an, was ich geschaut. Ich begab mich
heute auf die große Wiese, die oben am Berge liegt, denn ich
fot) dort eine lustige Gesellschaft um einen runden Tisch sitzend.
3n silbernen Schalen waren Früchte und Blumen anfgeschichtct,
und Flaschen standen in glänzenden, mit Eis gefüllten Gefäßen;
emsige Diener trugen rauchende Schüsseln herbei! Eben begann
Essen, als ein armes Weib athemlos dahergelaufen kam
und nach dem Doktor verlangte. Die Diener wiesen cs ab;
her Doktor sei heute bei ihrer Herrschaft zur Tafel eingeladen,
^lber das hals nichts, das Weib schrie und weinte so lange,
bis endlich einer den Doktor bei Seite rief. — „Herr Doktor,
wein Bub' ist in's Wasser gefallen!" klagte die Frau, „helfen
Sie; wenn er nicht schon gestorben ist, stirbt er sonst ganz ge-
wiß!" — „Wo ist er denn?" — „Dort unten am Steg
schrecken.
liegt er, einen Hecht hat er fangen wollen, und hat sich zu weit
hinausgebeugt, und da ist das Schiff umgeschlngcn. Einer hat
ihn herausgezogen und an's Land gefahren, ist mein einziges
Kind, — o wenn Sie nur barmherzig wären und schnell Nachsehen
wollten!" — Der Doktor ging mit der Frau. Ich hatte mich
während dieses Gespräches genähert und da mich die Sache
intcressirte, so sprang ich kühn ans des Doktors Hut und kam
auf diese Art bequem zu dem Ertrunkenen. Da lag ^r — so
starr wie ein Stück Holz. Der Doktor hat ihn zurecht gelegt,
hin- und hergewiegt, hin- und hergepreßt, kurz über eine Stunde
sich so geplagt, daß ihm der Schweiß auf der Stirne stand, und
daß ich mehr als einmal'Gefahr lief, von meinem Observatorium
herunter zu stürzen. „Er athmet, Herr Doktor!" schrie plötzlich die
Mutter, „mein Franzl lebt, mein guter Franzl, o die Freud!" und
sie weinte und lachte, und küßte dein Doktor die Hand. Er hat
sich auch gefreut, als ob es sein Kind gewesen wäre. Und wie
sich die Frau bedankt hat! sonderbar, es war fast traurig trotz
ihrer Freude. Als der Doktor den Rückweg einschlug, — ge-
wiß wollte er sich zu der Gesellschaft begeben — sagte ihm ein
alter Herr, au dem er vorüber ging: „Zu spät Doktor, schade,
das Diner ist vorüber, soeben fährt die ganze Gesellschaft
spazieren."
„Einerlei, ich bin hier nützlicher gewesen als dort!" er-
widerte der Doktor.
„Ja, ja, wenn Sie nur Gutes thun können, mehr brauchen
Sie nicht!" grüßte ihn der alte Herr und sie gingen auseinander.
Ich aber machte mir meine Gedanken beim Vergleich
mit den'Menschen! Hat sich je in unserer Gesellschaft einer so
edel benommen wie dieser Doktor? Von Opferwilligkeit, von
Entsagung wißt Ihr Alle nichts; ja die Menschen überragen
uns weit; strebt denn auch zu höherer Entwicklung, strebt empor
zu ihnen und laßt das ewige Springen und Singen!"
Er rief es in heiligem Eifer, aber umsonst, kaum war
seine Rede zu Ende, so ging der alte Tanz wieder los mit dem
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Die Heu
der Alte pickte und fraß mit den Jungen, daß bald manch'
vornehme Aehre zu einem Strohhalme degradirt war. —
Der dritte Heuschreck thronte auf einem Weidenbaum, — da
rauschte alsbald im gesteiften Kleide eine Erzieherin mit ihren
zwei Zöglingen einher. „Aber, Fräulein Natalie, bleiben Sic
doch auf der Straße, und lachen und schreien Sie nicht so
laut; ernste Sittsamkeit schickt sich für gebildete Leute, und Sie,
Fräulein Clotilde, springen umher, daß ich in Verzweiflung
über Ihren Mangel an Lebensart bin." —
„O Langeweile und Pedanterie; den möchte ich sehen, der
wir verböte, mich laut des Lebens zu freuen, wenn ich die
Lust dazu in mir fühle, und mit den Beinen und Flügeln umher-
zuschlagen!" rief das Heuschrecklein und schlug die hellgrünen
Flügel und Beinchen zusammen, daß es wie trillernde Musik
llang und Lüfte und Blumen davon erziiterten.
Des Abends fanden sich die Freunde wieder in der
Thnukneipe ein und die drei Heuschrecken theilten ihre Erlebnisse
wit. Groß war die Fluth der verachtenden Aeußerungen,
welche nun über das Menschengeschlecht ausgegossen wurden.
• „Ja, ja!" zirpte Pcpito, „das müssen schöne Geschöpfe
sein, diese Menschen! aber was kann man sich auch von Wesen
erwarten, die nur zwei Beine haben!"
„Und ihre Stimme dazu," rief Mastax; „wenn man sie
i» der Nähe vernimmt, möchte man taub werden vor Getöse;
wir geht es durch Mark und Bein, so oft ich einen höre."
„Statt das Gras zu essen, schneiden sie es ab, und
trocknen es!"
„Vandalen mit einem Wort."
„Und erst wie sie mit uns umgehen. Weißt Du noch,
Pepito, wie Einer Deine unglückliche Mutter fing und sic
lebendig an seine Mütze spießte und bei ihrem Gezappel höhnisch
bemerkte, das lebendige Anspießen müssen die Insekten schon
längst gewohnt sein, weil es ein alter Brauch sei."
„Und das nennen sie Entomologie treiben!" meinte Pepito.
„Auch als Fischköder benützen sie uns!"
„Manche betrachten uns sogar als Delikatessen, die Ana-
choretcn zum Beispiel!"
„Silentium!" ertönte plötzlich eine tiefe Stimme. Alle
erkannten Acridius den Weisen; wie durch einen Zauberschlag
berstummte das ganze Geschwirre. Acridius begann also:
„Nun höret auch an, was ich geschaut. Ich begab mich
heute auf die große Wiese, die oben am Berge liegt, denn ich
fot) dort eine lustige Gesellschaft um einen runden Tisch sitzend.
3n silbernen Schalen waren Früchte und Blumen anfgeschichtct,
und Flaschen standen in glänzenden, mit Eis gefüllten Gefäßen;
emsige Diener trugen rauchende Schüsseln herbei! Eben begann
Essen, als ein armes Weib athemlos dahergelaufen kam
und nach dem Doktor verlangte. Die Diener wiesen cs ab;
her Doktor sei heute bei ihrer Herrschaft zur Tafel eingeladen,
^lber das hals nichts, das Weib schrie und weinte so lange,
bis endlich einer den Doktor bei Seite rief. — „Herr Doktor,
wein Bub' ist in's Wasser gefallen!" klagte die Frau, „helfen
Sie; wenn er nicht schon gestorben ist, stirbt er sonst ganz ge-
wiß!" — „Wo ist er denn?" — „Dort unten am Steg
schrecken.
liegt er, einen Hecht hat er fangen wollen, und hat sich zu weit
hinausgebeugt, und da ist das Schiff umgeschlngcn. Einer hat
ihn herausgezogen und an's Land gefahren, ist mein einziges
Kind, — o wenn Sie nur barmherzig wären und schnell Nachsehen
wollten!" — Der Doktor ging mit der Frau. Ich hatte mich
während dieses Gespräches genähert und da mich die Sache
intcressirte, so sprang ich kühn ans des Doktors Hut und kam
auf diese Art bequem zu dem Ertrunkenen. Da lag ^r — so
starr wie ein Stück Holz. Der Doktor hat ihn zurecht gelegt,
hin- und hergewiegt, hin- und hergepreßt, kurz über eine Stunde
sich so geplagt, daß ihm der Schweiß auf der Stirne stand, und
daß ich mehr als einmal'Gefahr lief, von meinem Observatorium
herunter zu stürzen. „Er athmet, Herr Doktor!" schrie plötzlich die
Mutter, „mein Franzl lebt, mein guter Franzl, o die Freud!" und
sie weinte und lachte, und küßte dein Doktor die Hand. Er hat
sich auch gefreut, als ob es sein Kind gewesen wäre. Und wie
sich die Frau bedankt hat! sonderbar, es war fast traurig trotz
ihrer Freude. Als der Doktor den Rückweg einschlug, — ge-
wiß wollte er sich zu der Gesellschaft begeben — sagte ihm ein
alter Herr, au dem er vorüber ging: „Zu spät Doktor, schade,
das Diner ist vorüber, soeben fährt die ganze Gesellschaft
spazieren."
„Einerlei, ich bin hier nützlicher gewesen als dort!" er-
widerte der Doktor.
„Ja, ja, wenn Sie nur Gutes thun können, mehr brauchen
Sie nicht!" grüßte ihn der alte Herr und sie gingen auseinander.
Ich aber machte mir meine Gedanken beim Vergleich
mit den'Menschen! Hat sich je in unserer Gesellschaft einer so
edel benommen wie dieser Doktor? Von Opferwilligkeit, von
Entsagung wißt Ihr Alle nichts; ja die Menschen überragen
uns weit; strebt denn auch zu höherer Entwicklung, strebt empor
zu ihnen und laßt das ewige Springen und Singen!"
Er rief es in heiligem Eifer, aber umsonst, kaum war
seine Rede zu Ende, so ging der alte Tanz wieder los mit dem
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Werk/Gegenstand/Objekt
Pool: UB Fliegende Blätter
Titel
Titel/Objekt
"Die Heuschrecken"
Weitere Titel/Paralleltitel
Serientitel
Fliegende Blätter
Sachbegriff/Objekttyp
Inschrift/Wasserzeichen
Aufbewahrung/Standort
Aufbewahrungsort/Standort (GND)
Inv. Nr./Signatur
G 5442-2 Folio RES
Objektbeschreibung
Maß-/Formatangaben
Auflage/Druckzustand
Werktitel/Werkverzeichnis
Herstellung/Entstehung
Künstler/Urheber/Hersteller (GND)
Entstehungsort (GND)
Auftrag
Publikation
Fund/Ausgrabung
Provenienz
Restaurierung
Sammlung Eingang
Ausstellung
Bearbeitung/Umgestaltung
Thema/Bildinhalt
Thema/Bildinhalt (GND)
Literaturangabe
Rechte am Objekt
Aufnahmen/Reproduktionen
Künstler/Urheber (GND)
Reproduktionstyp
Digitales Bild
Rechtsstatus
In Copyright (InC) / Urheberrechtsschutz
Creditline
Fliegende Blätter, 65.1876, Nr. 1626, S. 91
Beziehungen
Erschließung
Lizenz
CC0 1.0 Public Domain Dedication
Rechteinhaber
Universitätsbibliothek Heidelberg