Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Gailhabaud, Jules; Kugler, Franz [Hrsg.]
Jules Gailhabaud's Denkmäler der Baukunst (Band 3): Denkmäler des Mittelalters, sechste Abtheilung — 1852

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.3503#0100
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Die Kirche VOIl Dorchester. (Nördliches Fenster des Chors.)

Die Kirche von Dorchester in der Grafschaft Oxford ist ein grosses Bauwerk von verschiedenen Stylen,
das in der Geschichte seines Landes oft erwähnt wird. Unter der angelsächsischen Dynastie war in Dor-
chester ein Bischofssitz, der gegen das Ende des elften Jahrhunderts nach Lincoln übertragen wurde. Dieser
Verlust für die Stadt wurde im Jahre 1140 durch Gründung einer Priorey ersetzt, die der Bischof Alexander
von Lincoln stiftete. In die Zeit dieser Gründung muss man die Erbauung des grössten Theils der jetzigen
Kirche versetzen, wie dies eine Thür im normannischen Style an der Nordseite der Kirche beweist. Der
interessanteste Theil des Gebäudes ist das Chor, das aus der Mitte des XIV Jahrhunderts datirt; es muss
in seinem ursprünglichen Zustande von prächtiger Wirkung gewesen sein, aber heute sind seine Schön-
heiten beinah verschwunden; mangelhafte Unterhaltung, eine Uebertünchung und Ausschmückungen in
schlechtem Geschmack sind die Ursache davon. Nichtsdestoweniger bleibt es indess bei dem Reichthum
seiner Sculpturen und bei der Eleganz seines Styles noch ein sehr sehenswerther Bau. Das Chor hat einen
quadratischen Schluss, wie dies bei den Chören englischer Kirchen aus der Periode des Spitzbogenstyls ge-
wöhnlich ist; es wird durch vier grosse Fenster mit prächtigen Glasmalereien von eben so zierlicher wie
eigenthümlicher Composition erhellt. Zwei dieser Fenster befinden sich in der östlichen Mauer, eines be-
findet sich in der südlichen Seitenmauer und das andere ihm gegenüber in der nördlichen. Das letztere
zeigt unsere Kupfertafel; es ist deshalb zur Darstellung gewählt worden, weil es eine der merkwürdigen
launenhaften Erfindungen zeigt, in denen sich öfter die Meister des Mittelalters ergingen, deren Phantasie
eben so fruchtbar wie ihr Sinn naiv und ihr Gemüth religiös war.

Was man bis heute in der Architectur des Mittelalters besonders studirt hat, sind ihre Formen und
deren Umbildungen, aber man ist nur wenig darauf eingegangen ihren Geist zu begreifen. In der Bau-
kunst geht das constructive System der Form voraus; wenn das erste der Geist ist, so ist das zweite der
Ausdruck dieses Geistes, das Wort. Wenn man nun das Wort erklären will, so muss man freilich sich
erst vom Geiste haben durchdringen lassen, den Geist der Form in sich aufgenommen haben, und das ist
es eben, was man nicht gethan hat. Es ist allerdings schwer, wenn man nur allein die stummen Lehren,
die die Denkmäler selber darbieten, zum Führer hat, die Einsicht der Grundsätze zu gewinnen, die bei der
Errichtung jener gewaltet haben; es fordert dies einen ausgewählten Geist und anstrengende Forschungen,
zwei Dinge, denen man selten begegnet. Man muss nicht etwa glauben, dass diese Grundsätze immer so
dunkel bleiben werden, wie sie uns heute erscheinen; sie werden wahrscheinlich nach und nach in dem
Maasse sich aufklären, als die Untersuchungen mehr und mehr in das Tiefe gehen und sich weniger einer
bloss äusserlichen Betrachtung der einzelnen Formen hingeben. Resultate, die man bis jetzt schon ge-
wonnen hat, beweisen es. Man fängt z. B. schon an zu begreifen, wie sich diese erhabene spitzbogige
Baukunst gebildet hat, über deren Entstehen man früher so lächerliche Fabeln ausstreute; man kann jetzt
nachweisen, dass das Princip, auf dem sie beruht, eben dasselbe ist, das der griechischen Architectur zu
Grunde liegt, dass es der Rationalismus ist, d. h. dass sie concipirt ist um den verschiedenen Bedürfnissen
der Völker, für die sie bestimmt war, zu dienen, dass sie den Anforderungen des Climas, unter dem jene
lebten, entsprechen und die Verwendung des jedesmaligen Baumaterials gestatten solle. Man kann eben
so erkennen, dass die so zahlreichen Unregelmässigkeiten, die bei den Gebäuden des Mittelalters vorkommen,
aus einer Art Gleichgültigkeit gegen die Symmetrie entstanden sind, eine Gleichgültigkeit, die uns auf-
fällig ist, da sie gegen unsere Gewöhnung verstösst; die sich aber bei Menschen erklären lässt, die ge-
wohnt sind gerade auf ihren Zweck loszugehen und die nichts von Regeln wissen, die das Gefühl der
Originalität ersticken könnten; es scheint andererseits, dass man im Mittelalter bei Ausführung von Bau-
werken der individuellen Erfindung des einzelnen Arbeiters einen weiten Spielraum Hess, vielleicht einen
zu weiten. Die verschwenderische Mannigfaltigkeit, die sich in den Verzierungen der im Spitzbogen er-
richteten Bauwerke zeigt, macht dies wenigstens glaublich. Eben dasselbe gilt von den Ungleichheiten in
dem Ensemble, denn man kann unmöglich sagen, dass sie aus Unkenntniss entstanden seien. Eine solche
Annahme ist so lächerlich, dass man sich gar nicht die Mühe zu geben braucht sie zu widerlegen; wer
kann glauben, dass Leute, die fähig waren 100 und 150Fuss hohe Gewölbe von weiter Spannung zu con-
struiren, nicht einige Absteckpfähle in gerade Linie hätten richten oder ein Kirchenschiff in gleiche Theile
hätten theilen können? Ein alterschwacher Classicismus kann allein einen so lächerlichen Satz aufstellen.
Wir haben die Ueberzeugung, dass man eines Tags den grössten Theil jener Anomalien, die uns erstaunen
machen, werde genügend erklären und jene oft eben so geisthaltigen wie seltsamen Ausschweifungen werde
deuten können, von denen das Fenster auf unserer Kupfertafel ein merkwürdiges Beispiel darbietet.

Dieses Fenster stellt eine Genealogie Jesus Christi dar; es ist die steinerne Uebersetzung des Verses
des Jesaias: „Und es wird eine Ruthe aufgehen von dem Stamme Isai, und ein Zweig aus seiner Wurzel

Denkmäler der Baukunst. CXXIX. Lieferung.
 
Annotationen