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Gailhabaud, Jules; Kugler, Franz [Hrsg.]
Jules Gailhabaud's Denkmäler der Baukunst (Band 3): Denkmäler des Mittelalters, sechste Abtheilung — 1852

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https://doi.org/10.11588/diglit.3503#0130
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Die Chorstühle der Kathedrale von Amiens.

Ranken, die von Epheu und Disteln durchschlungen werden, geschmückt, und Vögel aller Art und jeder
Grösse schlüpfen durch das Laubwerk. Unglücklicher Weise sind die Lilien, die diese Rückwand
schmückten, zwei Mal unter dem Meissel der Vandalen gefallen. Der Baldachin über jedem Chorstuhl
springt ungefähr drei Fuss vor; er wird durch eine kleine Kuppel gebildet, die sich aus acht Kappen
zusammen wölbt, deren Rippen wie Zweige aus den Seitenpfeilern der Rückwand emporschiessen. Alle
diese Zweige oder Rippen treffen in einem herabhängenden Schlussstein zusammen, der als eine Figur in
seltsamer Stellung und mit einer Miene gebildet ist, als stemme sie sich gegen das Gewicht der Gewölbe
und der Rippen. Alle die Stücke, die einen Chorstuhl bilden, die hohe Rückwand und der Baldachin
mit inbegriffen, sind ohne Schrauben und Nägel sondern blos mit Leim vermittelst Zapfen und Nuthen
mit solcher Sorgfalt verbunden, dass man die Verbindungen gar nicht wahrnehmen kann. An jeder Seite
der Thür des Lettners befinden sich zwei Chorstühle, grösser und prächtiger als die anderen, und erheben
sich bis zu einer Höhe von 41 Fuss (loMetres). Der untere Thcil derselben umfasst den Sitz mit seinen
Arm- und Rücklehnen; die hohe Rückwand ist mit historischen Darstellungen bedeckt und geht in eine
reich geschmückte Pyramide aus, die aus zwei Hauptgeschossen besteht, um welche sich fünf andere kleine
Pyramiden gruppiren.

Die prächtigen Figuren-Sculpturen, die mit Verschwendung über alle Theile der Chorstühle ausgebreitet
sind, gehören zwei bestimmt unterschiedene Reihen an, und enthalten zusammen vierhundert Darstellungen.
Die erste Reihe begreift Scenen aus dem alten und neuen Testament; die zweite Darstellungen aus der
Geschichte, Allegorien u. dgl. Das alte Testament hat viele religiöse Darstellungen geliefert, von der
Schöpfung und dem Paradiese anzufangen bis zu den Leiden und Geduldsproben Hiobs.

Das Leben der Jungfrau Maria bildet eben so eine grosse Abtheilung der figürlichen Darstellungen
der Chorstühle. An den am meisten sichtbaren Flächen der vier grossen Pyramiden, an der Rückwand
der beiden Hauptchorstühle finden wir die Hauptbegebenheiten ihres Lebens dargestellt, ihre göttliche
Auserwählung, ihre Vorausverkündigung in alter Zeit durch die Propheten, die Huldigung, die ihr die
Völker am Tage der Erscheinung Christi darbringen, das Mysterium ihrer Reinigung, ihre Flucht nach
Aegypten, ihr Tod, ihre Himmelfahrt, ihre Krönung. Die übrigen Darstellungen aus ihrem Leben befinden
sich an den Seitenwänden der Treppen, die an vier verschiedenen Stellen die Reihe der unteren Chorstühle
durchbrechen; ihre Empfängniss und Geburt, ihr Kindesleben, ihre Darstellung im Tempel, ihre niedrigen
häuslichen Verrichtungen, ihr Gebet vor der Bundeslade, ihr Lehen im Tempel, der Besuch der Engel bei
Maria^ ihre Verlobung, ihre Hochzeit, ihre Verkündigung und Heimsuchung, ihre Gegenwart bei der
Hochzeit von Canaan, bei den Predigten ihres Sohnes, bei allen schmerzlichen Ereignissen seines Leidens,
die Erscheinung Christi nach seinem Tode vor Maria, endlich seine Himmelfahrt. Keine dieser Dar-
stellungen ist beschädigt worden. Auf der Spitze der grossen Pyramiden am Eingange des Chores befinden
sich die symbolischen Figuren der jüdischen und der christlichen Religion. Wie immer bei solchen
Sculpturen des Mittelalters so hat auch liier die personiiieirte Synagoge in der einen Hand eine zerbrochene
Fahne, aus der anderen entgleiten ihr die Gesetztafeln des alten Bundes; ihre Augen sind mit einer
dichten Binde bedeckt. Die christliche Kirche ist mit einem reichen Diadem bekrönt, in der einen Hand
hält sie einen Kelch, in der anderen die abgebrochen ist, hielt sie wahrscheinlich ein Scepter oder das
Kreuz. Auf dem höchsten Punkte der beiden anderen Pyramiden stehen der Erzengel Michael auf dem
überwundenen Drachen und der Apostel Paulus in der einen Hand das Schwert, in der anderen das

Evangelium.

Während die in die Augen fallendsten Seiten der Chorstühle mit religiösen Darstellungen

bedeckt sind, sind die anderen minder wichtigen mit Scenen aus dem wirklichen Leben mit seinen Tugenden
und Lastern, mit seinen Lächerlichkeiten und Erhabenheiten angefüllt. Die Armlehnen und Pendentifs
sind mit seltsamen und curiosen Vorstellungen verziert: da sieht man einen in eine Mönchskutte gehüllten
Fuchs, der den Hühnern predigt, einen Bildschnitzer, einen Baumeister vor einem mit Papier bedeckten
Tische sitzend, der mit Lineal- und Maasstab einen Bauriss entwirft; endlich das Portrait Jean Trupins,
wie derselbe an einer Statuette mit Meissel und Hammer arbeitet; sein Name, der in der Geschichte der
Chorstühle eine Rolle spielt, befindet sich etwas unter dem Kopf der Armlehne,

- .

i t e r a t u r.



1) Jourdain et Diival', Les Stalles de la Caihedräle d'Ajr.ieas (Auszug
Memoires de la SocieUe des antiquaires de Picardie.)

2) Gilbert, Deseription de la cathedrale d'!Amiens.

ans den

3) kodier, Ch., J. Taylor et A. de Cailleiix, voyages pittoresques et romautiques
dans l'ancienne France. Paris, 1829 — 33. Fol.






 
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