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Ohne einen Blick auf die stilistische Sachlage, zu welcher die Gothik geführt
hatte, sind Verständniss und Beurtheilung dieser Fragen ganz unmöglich. Ich lasse
hier Choify reden, da seine gründliche Kenntniss der constructiven Fragen überall
anerkannt wird:
»Die Geschichte der gothischen Architektur ist die des staunenswerthesten,
unaufhaltsamen Ringens (du plus etonnant effort} der Logik in der Kunst.
Von ihren Anfängen bis zum letzten Augenblick hatte sie nur ein Ziel,
die Massen zu vermindern.
Sie begann damit, dass sie aus dem unthätigen Körper (du corps inerte}
der Gewölbe ein wirkendes Gerippe (ofsature} absonderte (en degageanl).
Als sie am Ende ihrer Entwickelung anlangt, bleiben vom Gebäude nur
noch eine Art Gerippe und durchbrochene Oeffnungen (claires-voies) übrig.«
Die Art, wie die Verschmelzung und Identificirung der Kunst- und der Structurformen durch sie
erreicht wurde, war ohne Zweifel eine Leistung, auf welche nicht nur die gothischen Meister, sondern die
Menschheit überhaupt stolz sein darf. Sie hat zu Errungenschaften geführt, die für alle Zeiten dem Archi-
tekten eine werthvolle, unentbehrliche Lehre sind und ihm einen kostbaren Massstab in die Hände legen,
um bei der Anwendung freierer Bauweisen stets genau zu erkennen, in welchem Verhältniss seine
Decorationsformen zur angewandten Structur slehen, wie weit sie sich davon entfernen.
Aber trotz dieser eminenten Leistungen gab es dennoch in der gothischen Architektur verschiedene
Seiten, die ihr eine Rolle anweisen, die man nicht anders als ein System einseitiger Beschränkung und als
eine Tyrannei bezeichnen kann.
Die Steine waren zum Tyrannen der Architektur geworden; man nannte die Architekten nur noch
Maurer oder Steinsehneider, die Architektur selbst Z’art de la Maflonnerie, ja Gott als Schöpfer der Welt
le Souverain Magon.
Es bedarf aber keiner besonderen Einsicht, um zu erkennen, wie einseitig eine
solche Auffassung der architektonischen Formenentwickelung ist und wie wenig das
Gliedersystem, zu welchem sie geführt hat, geeignet war, die verschiedenartigen
Aufgaben der Baukunst, welche die Cultur der Renaissance, d. h. diejenige der Zu-
kunft, eingeführt hat, erfüllen zu können.
Nach 350 Jahren eines so einseitigen Bundes wäre ein neues, ebenso ausschliessliches enges Bündniss,
mit welchem Structursystem man es auch erdenken könnte, das letzte gewesen, was die Architektur bedurft
und ertragen hätte. Es wäre eine neue Fessel gewesen , welche die Renaissance verhindert hätte , jedes
neue structive Mittel aufzunehmen, jeder neuen Aufforderung zu genügen, sich stets zu verjüngen und die
Architektur der Zukunft zu bleiben. Mit der Neubelebung der italienischen Auffassungsweise der Archi-
tektur, mit ihrer Renaissance, wurde dieser Bann gebrochen.
Das Mittel, dessen sich nun die Renaissance für diese befreiende Mission bediente, war die Rückkehr
zum altrömischen Princip der Construction und der Decoration, die Wiederherstellung ihrer Unabhängig-
keit von einander741).
Zur einseitigen Verknüpfung mit einem einzigen Structursystem kam die totale
Rücksichtslosigkeit der Architektur gegen die Schwesterkünste hinzu. Diesen blieb
nur noch übrig, die Rolle decorativer Künste zu spielen. Man hatte sie, so zu
sagen, zu Kunsthandwerken herabgedrückt.
2) Verhältniss der Structur zum Raum.
Eine andere Aufgabe für die Renaissance war das Zurückkehren zu älteren
Structurformen oder das Entwickeln neuerer für die Ausbildung derjenigen Gebiete,
i) Mit der ihm eigenen Klarheit und feinem Sachverständniss hob Choify hervor, wie dieses römische Princip im
Grunde nie von den Italienern, auch nicht während ihrer sog. gothischen Periode aufgegeben wurde. »Cette independance
de 1' ornement et du corps de V edisice,« sagt Choify, »rendait le g othique Italien ejfentie Ile ment transformable . . . Lorsqu' au
is siecle V antiquite revient en honnetcr . . . I' architecture na rien a changer quant au foi.d: eile fe fait romaine comme
auparavant eile avait Ite g othique, le vetement feul eß modisie.« {Hißoire de Varchitecture. Paris 1899. Bd. II, S. 603.)
448.
Folgen der
gothischen
Einseitigkeit.
449.
Schaffung
eines
Raumstils.
Ohne einen Blick auf die stilistische Sachlage, zu welcher die Gothik geführt
hatte, sind Verständniss und Beurtheilung dieser Fragen ganz unmöglich. Ich lasse
hier Choify reden, da seine gründliche Kenntniss der constructiven Fragen überall
anerkannt wird:
»Die Geschichte der gothischen Architektur ist die des staunenswerthesten,
unaufhaltsamen Ringens (du plus etonnant effort} der Logik in der Kunst.
Von ihren Anfängen bis zum letzten Augenblick hatte sie nur ein Ziel,
die Massen zu vermindern.
Sie begann damit, dass sie aus dem unthätigen Körper (du corps inerte}
der Gewölbe ein wirkendes Gerippe (ofsature} absonderte (en degageanl).
Als sie am Ende ihrer Entwickelung anlangt, bleiben vom Gebäude nur
noch eine Art Gerippe und durchbrochene Oeffnungen (claires-voies) übrig.«
Die Art, wie die Verschmelzung und Identificirung der Kunst- und der Structurformen durch sie
erreicht wurde, war ohne Zweifel eine Leistung, auf welche nicht nur die gothischen Meister, sondern die
Menschheit überhaupt stolz sein darf. Sie hat zu Errungenschaften geführt, die für alle Zeiten dem Archi-
tekten eine werthvolle, unentbehrliche Lehre sind und ihm einen kostbaren Massstab in die Hände legen,
um bei der Anwendung freierer Bauweisen stets genau zu erkennen, in welchem Verhältniss seine
Decorationsformen zur angewandten Structur slehen, wie weit sie sich davon entfernen.
Aber trotz dieser eminenten Leistungen gab es dennoch in der gothischen Architektur verschiedene
Seiten, die ihr eine Rolle anweisen, die man nicht anders als ein System einseitiger Beschränkung und als
eine Tyrannei bezeichnen kann.
Die Steine waren zum Tyrannen der Architektur geworden; man nannte die Architekten nur noch
Maurer oder Steinsehneider, die Architektur selbst Z’art de la Maflonnerie, ja Gott als Schöpfer der Welt
le Souverain Magon.
Es bedarf aber keiner besonderen Einsicht, um zu erkennen, wie einseitig eine
solche Auffassung der architektonischen Formenentwickelung ist und wie wenig das
Gliedersystem, zu welchem sie geführt hat, geeignet war, die verschiedenartigen
Aufgaben der Baukunst, welche die Cultur der Renaissance, d. h. diejenige der Zu-
kunft, eingeführt hat, erfüllen zu können.
Nach 350 Jahren eines so einseitigen Bundes wäre ein neues, ebenso ausschliessliches enges Bündniss,
mit welchem Structursystem man es auch erdenken könnte, das letzte gewesen, was die Architektur bedurft
und ertragen hätte. Es wäre eine neue Fessel gewesen , welche die Renaissance verhindert hätte , jedes
neue structive Mittel aufzunehmen, jeder neuen Aufforderung zu genügen, sich stets zu verjüngen und die
Architektur der Zukunft zu bleiben. Mit der Neubelebung der italienischen Auffassungsweise der Archi-
tektur, mit ihrer Renaissance, wurde dieser Bann gebrochen.
Das Mittel, dessen sich nun die Renaissance für diese befreiende Mission bediente, war die Rückkehr
zum altrömischen Princip der Construction und der Decoration, die Wiederherstellung ihrer Unabhängig-
keit von einander741).
Zur einseitigen Verknüpfung mit einem einzigen Structursystem kam die totale
Rücksichtslosigkeit der Architektur gegen die Schwesterkünste hinzu. Diesen blieb
nur noch übrig, die Rolle decorativer Künste zu spielen. Man hatte sie, so zu
sagen, zu Kunsthandwerken herabgedrückt.
2) Verhältniss der Structur zum Raum.
Eine andere Aufgabe für die Renaissance war das Zurückkehren zu älteren
Structurformen oder das Entwickeln neuerer für die Ausbildung derjenigen Gebiete,
i) Mit der ihm eigenen Klarheit und feinem Sachverständniss hob Choify hervor, wie dieses römische Princip im
Grunde nie von den Italienern, auch nicht während ihrer sog. gothischen Periode aufgegeben wurde. »Cette independance
de 1' ornement et du corps de V edisice,« sagt Choify, »rendait le g othique Italien ejfentie Ile ment transformable . . . Lorsqu' au
is siecle V antiquite revient en honnetcr . . . I' architecture na rien a changer quant au foi.d: eile fe fait romaine comme
auparavant eile avait Ite g othique, le vetement feul eß modisie.« {Hißoire de Varchitecture. Paris 1899. Bd. II, S. 603.)
448.
Folgen der
gothischen
Einseitigkeit.
449.
Schaffung
eines
Raumstils.