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4S°-
Fähigkeit
der
Assimilation
und
Aufnahme
neuer
Elemente.
welche die Gothik sehr vernachlässigt hatte. Es war die Ergänzung von einem
Formen- und Structursystem, welches sich ausschliesslich am Baue der Kirchen und
Kathedralen entwickelt hatte.
Ein Baustil, dessen Ideal nur noch aus möglichst dünnen, schlanken Stützen
und möglichst grossen Oeffnungen besteht, ist mit solchen Mitteln von vornherein
wenig geeignet, der Aufgabe der eigentlichen Raumbildung zu entsprechen.
Von einer Cultur und einer Kunst der Lebensweise hatte die Gothik kaum
eine Ahnung.
Hier war die Aufgabe, deren die moderne Welt bedurfte, vorgezeichnet, und
die Renaissance hat diesem Programm in treffender Weise entsprochen.
Ausserhalb des Kirchenbaues und einiger Palastsäle hatte die Gothik die Ausbildung der Räumlich-
keiten, die zum Wohnen oder zu weltlichen festlichen Empfängen nöthig sind, in auffallender Weise ver-
nachlässigt.
Der feine Künstlerblick Burckhardl's hatte auch hier bis in das innerste Wesen
der Renaissance geschaut, als er für sie die Bezeichnung eines »Raumstils« ein-
führte, und dies zu einer Zeit, wo die Wenigsten eine klare Vorstellung der Trag-
weite dieser Bezeichnung kannten.
Man darf sagen, dass die Bedingungen, welche die Schönheit des Raumes und
seiner Gliederung, ebenso wie die Harmonie zusammengruppirter Raumschönheiten
schaffen, zu einem wirklichen und idealen Structurgesetz der italienischen Renaissance
geworden sind.
Indem die Renaissance die Architektur von einem möglichst dünnen »Stützen-
stil« zu einem »Raumstil« erhoben hat, stellt sie ein für alle Mal die Architektur
vor ihre wahre Misfion: in möglichst vollkommener Weise »raumbildend« zu sein.
Ihrer vierhundertjährigen Existenz und Entwickelung ist es zu verdanken, dass wir
zu diesem Zwecke, in der heutigen Phase der Renaissance, so zu sagen alle bisher
entstandenen Structursysleme unter einander concurriren und unsere Wahl auf den
für die gegebene Aufgabe geeignetsten fallen lassen können.
Dies ist für einen Baustil, sowie für die Zeit, in der er sich entwickelt, ein
Zeichen höchster Cultur, Freiheit, Toleranz und Intelligenz.
3) Structive Grundsätze.
Statt kein Structursystem zu haben, ist die Renaissance, dank der Architektur-
principien, die sie verbindet, fähig, die vergangenen Structursysteme, sowie jedes
neue structive Element und Mittel aufzunehmen, sich zu assimiliren und harmonisch
auszubilden.
Dank der Coexistenz der beiden verschiedensten geistigen Ausfassungsweisen und
des Bündnisses der verticalen und der horizontalem Compositionsweise, aus der sie
hervorgegangen, gewährt sie beiden, so zu sagen, ihre constitutionellen Rechte und
ermöglicht eine gesunde Collaboration.
Dieses Bündniss sicherte der Renaissance stets die Mitwirkung und Betheiligung
aller gesunder künstlerischer Kräfte. Durch die Dualität ihrer Quellen und Principien
entsteht eine Art »architektonischen Ehepaares«. Durch die gegenseitige geistige Be-
fruchtung der griechisch-römischen-italienischen und der gallo-germanischen Gefühls-
weisen und Culturformen ist, soweit Menschenkraft reicht, die Grundlage und Be-
dingung für die ewige Frische und gesunde Lebenskraft ihres Stils und seiner
Verfassung gelegt.
4S°-
Fähigkeit
der
Assimilation
und
Aufnahme
neuer
Elemente.
welche die Gothik sehr vernachlässigt hatte. Es war die Ergänzung von einem
Formen- und Structursystem, welches sich ausschliesslich am Baue der Kirchen und
Kathedralen entwickelt hatte.
Ein Baustil, dessen Ideal nur noch aus möglichst dünnen, schlanken Stützen
und möglichst grossen Oeffnungen besteht, ist mit solchen Mitteln von vornherein
wenig geeignet, der Aufgabe der eigentlichen Raumbildung zu entsprechen.
Von einer Cultur und einer Kunst der Lebensweise hatte die Gothik kaum
eine Ahnung.
Hier war die Aufgabe, deren die moderne Welt bedurfte, vorgezeichnet, und
die Renaissance hat diesem Programm in treffender Weise entsprochen.
Ausserhalb des Kirchenbaues und einiger Palastsäle hatte die Gothik die Ausbildung der Räumlich-
keiten, die zum Wohnen oder zu weltlichen festlichen Empfängen nöthig sind, in auffallender Weise ver-
nachlässigt.
Der feine Künstlerblick Burckhardl's hatte auch hier bis in das innerste Wesen
der Renaissance geschaut, als er für sie die Bezeichnung eines »Raumstils« ein-
führte, und dies zu einer Zeit, wo die Wenigsten eine klare Vorstellung der Trag-
weite dieser Bezeichnung kannten.
Man darf sagen, dass die Bedingungen, welche die Schönheit des Raumes und
seiner Gliederung, ebenso wie die Harmonie zusammengruppirter Raumschönheiten
schaffen, zu einem wirklichen und idealen Structurgesetz der italienischen Renaissance
geworden sind.
Indem die Renaissance die Architektur von einem möglichst dünnen »Stützen-
stil« zu einem »Raumstil« erhoben hat, stellt sie ein für alle Mal die Architektur
vor ihre wahre Misfion: in möglichst vollkommener Weise »raumbildend« zu sein.
Ihrer vierhundertjährigen Existenz und Entwickelung ist es zu verdanken, dass wir
zu diesem Zwecke, in der heutigen Phase der Renaissance, so zu sagen alle bisher
entstandenen Structursysleme unter einander concurriren und unsere Wahl auf den
für die gegebene Aufgabe geeignetsten fallen lassen können.
Dies ist für einen Baustil, sowie für die Zeit, in der er sich entwickelt, ein
Zeichen höchster Cultur, Freiheit, Toleranz und Intelligenz.
3) Structive Grundsätze.
Statt kein Structursystem zu haben, ist die Renaissance, dank der Architektur-
principien, die sie verbindet, fähig, die vergangenen Structursysteme, sowie jedes
neue structive Element und Mittel aufzunehmen, sich zu assimiliren und harmonisch
auszubilden.
Dank der Coexistenz der beiden verschiedensten geistigen Ausfassungsweisen und
des Bündnisses der verticalen und der horizontalem Compositionsweise, aus der sie
hervorgegangen, gewährt sie beiden, so zu sagen, ihre constitutionellen Rechte und
ermöglicht eine gesunde Collaboration.
Dieses Bündniss sicherte der Renaissance stets die Mitwirkung und Betheiligung
aller gesunder künstlerischer Kräfte. Durch die Dualität ihrer Quellen und Principien
entsteht eine Art »architektonischen Ehepaares«. Durch die gegenseitige geistige Be-
fruchtung der griechisch-römischen-italienischen und der gallo-germanischen Gefühls-
weisen und Culturformen ist, soweit Menschenkraft reicht, die Grundlage und Be-
dingung für die ewige Frische und gesunde Lebenskraft ihres Stils und seiner
Verfassung gelegt.