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Wie einmal Burckhardt zu mir sagte: »Die Welt ist noch lange nicht aus-
gemalt«, so kann man ebenfalls sagen : Die Renaissance ist noch lange nicht ausgebaut!
Durch diese Elasticität und Ausdehnbarkeit ihrer Structurprincipien, durch diese unerschöpflichen
Quellen ihrer Gedanken und Gefühle ist daher die Architektur der Renaissance nicht nur jetzt im emi-
nentesten Sinne des Wortes vollkommen »modern«, sondern sie hat Alles, um stets »modern« zu bleiben.
Die Renaissance hat somit, kann man sagen, das Princip der Gewissensfreiheit in die Architektur ein-
geführt, ebenso wie bald darauf die Reformation auf religiösem Gebiete ihr den Weg bahnen sollte.
Indem aber die Renaissance dem Architekten Mittel einer noch nie da gewesenen Freiheit der
.Gedanken, des Gefühles und der Construction zur Verfügung stellt, begleitet sie dies mit einer ernsten
Mahnung. Durch die Beispiele der vor ihr blühenden Stile, aus denen sie hervorgegangen ist, macht die
Renaissance den Architekten fähig, jederzeit zu bemessen, wie weit er gehen darf, ohne in gefährlicher
Weise die Gesetze der begleitenden Structur zu vergessen und in gesetz- und schrankenlose, verderben-
bringende Willkür zu verfallen.
b) Umwandelung und Einssüsse des structiven Geistes der Franzosen.
In welcher Weise hat sich der Uebergang von der gothischen Anschauungsweise
zu derjenigen der Renaissance vollzogen ? Zu welchen Erscheinungen hat die all-
mähliche Entwickelung und Verbreitung dieser Principien geführt?
Es lohnt sich schon desshalb, diesen Fragen nachzugehen, weil es interessant
ist, zu erkennen, ob das eminente, kühne, slructive und technische Talent der
französisch-gothischen Meister auf einmal verschwunden ist, oder ob es sich in einer
anderen Weise auszusprechen sucht.
Wie im Gebiete des Geistes und aller Formen, sehen wir auch auf demjenigen
der Construction eine Zeit des Ueberganges zu den neuen Gewohnheiten. Dann
muss ferner auf die folgenden drei Erscheinungen hingewiesen werden.
Erstens ist hier, wie Choify 71es sehr richtig gethan hat, auf den Widerstand
der einheimischen, nationalen, gothischen Structurprincipien hinzuweisen. Man kann
hinzufügen, dass bis auf den heutigen Tag Erinnerungen an die Denk-, Fühl- und
Structurweise, welche die Gothik hervorbrachten, fortleben. Einmal ist es in der
Wahl einer Form, das andere Mal in der Wahl einer Technik.
Meistens wurden die gothischen Structur- und technischen Methoden der Ausführung beibehalten,
so lange sie irgend wie mit der immer mehr von den italienischen Formen durchdrungenen Composition
und Detaillirung vereinbar waren.
Die Gewohnheit der französtschen Gothik, die Form als einen Ausdruck der
Construction anzusehen —- oder richtiger gesagt, ein System von Structurformen
anzuwenden, welches ihrem Verstandes- und Gefühlsideal entsprach und mit der
Ausbildung der Gliederungen und Details auf das glücklichste verschmolzen und
unzertrennbar geworden war, — wirkte in mehrfacher Weise auf die französische
Renaissance weiter.
Auf ihr beruht jene Stilrichtung, welche die Franzosen als le principe d'accufer
la conftruction bezeichnen. Sie besteht im Wesentlichen darin, die verschiedenen
Elemente der Construction, das Material, die Verbindungen und Verzahnungen auf-
richtig zu zeigen, ihnen eine gewisse Eleganz der Formen, Details oder Verhältnisse
zu geben. Bei bescheidenen Mitteln ist dies ost der richtige Weg, um wenigstens
die Gediegenheit der Gesinnungen des Bauherrn zu zeigen. Sie verleiht öfters dem
U2) Siehe seine Hisioire de VArckitecture, Bd. II, S. 601 u. 603. — Er schreibt: »La renaissance en Italic n' implique
qii une resorme dans le Jysilme d'ornement, chez rums eile rencontrera comme obsiacle le Jysilme meine de la bdtisse
traditionelle.« — Etwas früher hatte er gesagt: »Les traditions de la consiruction genent en France l' adoption des proportions
clafsiques.r
451-
Fähigkeit,
modern
zu bleiben.
452-
Uebergang
der
Anschauungs-
weise.
453-
Festhalten
an
gothischen
Structur-
principien.
454-
Zeigen
der
Construction.
Wie einmal Burckhardt zu mir sagte: »Die Welt ist noch lange nicht aus-
gemalt«, so kann man ebenfalls sagen : Die Renaissance ist noch lange nicht ausgebaut!
Durch diese Elasticität und Ausdehnbarkeit ihrer Structurprincipien, durch diese unerschöpflichen
Quellen ihrer Gedanken und Gefühle ist daher die Architektur der Renaissance nicht nur jetzt im emi-
nentesten Sinne des Wortes vollkommen »modern«, sondern sie hat Alles, um stets »modern« zu bleiben.
Die Renaissance hat somit, kann man sagen, das Princip der Gewissensfreiheit in die Architektur ein-
geführt, ebenso wie bald darauf die Reformation auf religiösem Gebiete ihr den Weg bahnen sollte.
Indem aber die Renaissance dem Architekten Mittel einer noch nie da gewesenen Freiheit der
.Gedanken, des Gefühles und der Construction zur Verfügung stellt, begleitet sie dies mit einer ernsten
Mahnung. Durch die Beispiele der vor ihr blühenden Stile, aus denen sie hervorgegangen ist, macht die
Renaissance den Architekten fähig, jederzeit zu bemessen, wie weit er gehen darf, ohne in gefährlicher
Weise die Gesetze der begleitenden Structur zu vergessen und in gesetz- und schrankenlose, verderben-
bringende Willkür zu verfallen.
b) Umwandelung und Einssüsse des structiven Geistes der Franzosen.
In welcher Weise hat sich der Uebergang von der gothischen Anschauungsweise
zu derjenigen der Renaissance vollzogen ? Zu welchen Erscheinungen hat die all-
mähliche Entwickelung und Verbreitung dieser Principien geführt?
Es lohnt sich schon desshalb, diesen Fragen nachzugehen, weil es interessant
ist, zu erkennen, ob das eminente, kühne, slructive und technische Talent der
französisch-gothischen Meister auf einmal verschwunden ist, oder ob es sich in einer
anderen Weise auszusprechen sucht.
Wie im Gebiete des Geistes und aller Formen, sehen wir auch auf demjenigen
der Construction eine Zeit des Ueberganges zu den neuen Gewohnheiten. Dann
muss ferner auf die folgenden drei Erscheinungen hingewiesen werden.
Erstens ist hier, wie Choify 71es sehr richtig gethan hat, auf den Widerstand
der einheimischen, nationalen, gothischen Structurprincipien hinzuweisen. Man kann
hinzufügen, dass bis auf den heutigen Tag Erinnerungen an die Denk-, Fühl- und
Structurweise, welche die Gothik hervorbrachten, fortleben. Einmal ist es in der
Wahl einer Form, das andere Mal in der Wahl einer Technik.
Meistens wurden die gothischen Structur- und technischen Methoden der Ausführung beibehalten,
so lange sie irgend wie mit der immer mehr von den italienischen Formen durchdrungenen Composition
und Detaillirung vereinbar waren.
Die Gewohnheit der französtschen Gothik, die Form als einen Ausdruck der
Construction anzusehen —- oder richtiger gesagt, ein System von Structurformen
anzuwenden, welches ihrem Verstandes- und Gefühlsideal entsprach und mit der
Ausbildung der Gliederungen und Details auf das glücklichste verschmolzen und
unzertrennbar geworden war, — wirkte in mehrfacher Weise auf die französische
Renaissance weiter.
Auf ihr beruht jene Stilrichtung, welche die Franzosen als le principe d'accufer
la conftruction bezeichnen. Sie besteht im Wesentlichen darin, die verschiedenen
Elemente der Construction, das Material, die Verbindungen und Verzahnungen auf-
richtig zu zeigen, ihnen eine gewisse Eleganz der Formen, Details oder Verhältnisse
zu geben. Bei bescheidenen Mitteln ist dies ost der richtige Weg, um wenigstens
die Gediegenheit der Gesinnungen des Bauherrn zu zeigen. Sie verleiht öfters dem
U2) Siehe seine Hisioire de VArckitecture, Bd. II, S. 601 u. 603. — Er schreibt: »La renaissance en Italic n' implique
qii une resorme dans le Jysilme d'ornement, chez rums eile rencontrera comme obsiacle le Jysilme meine de la bdtisse
traditionelle.« — Etwas früher hatte er gesagt: »Les traditions de la consiruction genent en France l' adoption des proportions
clafsiques.r
451-
Fähigkeit,
modern
zu bleiben.
452-
Uebergang
der
Anschauungs-
weise.
453-
Festhalten
an
gothischen
Structur-
principien.
454-
Zeigen
der
Construction.