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Geymüller, Heinrich von; Geymüller, Heinrich von [Contr.]
Die Baukunst der Renaissance in Frankreich (Heft 2): Struktive und ästhetische Stilrichtungen, Kirchliche Baukunst — Stuttgart: Bergsträsser, 1901

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https://doi.org/10.11588/diglit.67518#0020
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338

Italien und
Frankreich.

456.
Unterschiede
der
Verhältnisse

455-
Folgen einer
verschiedenen
Mission.

Bau einen gewissen Reiz, kann aber auch zu einem teftimonium paupertatis werden
und je nach den Fällen einen Mangel an höherem feinen monumentalen Sinn
verkünden.
Diese Richtung ist, so viel mir bekannt, den Italienern fremd. Nie fällt es ihnen ein, mit der
Construction um ihrer selbst willen zu liebäugeln und zu kokettiren. Sie ist und bleibt ihnen ein Mittel,
um die erwünschte Kunstform zu erreichen und weiter nichts.
Die Franzosen dagegen haben oft eine wahre Freude, witzig, geistreich, erfinderisch in der Con-
struction zu sein, zeigen gern eine structive Wahrheit, die Anwendung einer stereotomischen Regel, eine
dispoßtion ingenieufe, eine überwundene Schwierigkeit oder Geschicklichkeit irgend welcher Art um ihrer
selbst willen.
Wir begegneten dieser Erscheinung schon mehrfach: in der Reaction im Sinne der strengen Richtung
unter Heinrich IV. (Art. 229, S. 208); im Backsteinbau des Stils Louis XIII. (Art. 290—293, S. 233
bis 234), und in der realislisch-rationalistischen Stilrichtung von 1594—1774 (S. 252—254).
In Frankreich werden die Umrahmungen der Thüren und Fenster stets an einer Reihe von Quadern
ausgemeisselt, die im Verband mit dem anstossenden Mauerwerk oder durch Verzahnungen mit demselben
verbunden werden. Es stört die französischen Architekten nicht, wenn der nicht zur Umrahmung gehörige
Theil der Verzahnung die Farbe der eigentlichen Umrahmung als oft unregelmässigen Flecken weiter in
das Mauerwerk hineinträgt.
In Italien trifft man nie solche Verzahnungen , welche auf die reine Form der Umrahmung siörend
einwirken. Die Gewände werden meistens nach dem Aufführen der Mauern in für sie frei gelassene
Vertiefungen eingesetzt. Ebenso wird an Fagaden, namentlich bei Kirchen, die verkleidende Kunstform
oft viel später als das Kernmauerwerk durch Verblendung vorgesetzt.
Drittens muss auf den Unterschied in der Mission der Renaissance-Architektur
hingewiesen werden, die, im Gegensatz zum XII. und XIII. Jahrhundert, keine Periode
structiver Fortentwickelung mittels phantasie voller und geistreicher oder sinniger,
aber complicirterer Lösungen des slatischen Gleichgewichtes der Bauwerke war. Sie
sollte im Gegentheil eine Zeit entschiedener structiver Vereinfachung sein. Dies
ist eine Folge des Eindringens des antiken und italienischen Geistes, der mehr
die Gesammtheit der Werke und ihre schöne Ausbildung im Auge behält, als das
Ziel, möglichst vielerlei Elemente zu ihrer Verwirklichung zu vereinigen.
Die Constructionsweise wird von dieser ästhetischen Empfindungs- und Compo-
sitionsweise mehr und mehr beeinssusst.
Diese Thatsache ist mit folgender historischen Erscheinung zusammen zu bringen. Wir sehen in der
Geschichte mehrfach auf einen Stil, der, so zu tagen, streng mit einem Structursystem verkörpert und
verwachsen war, einen Stil mit freieren Structurprincipien folgen. Auf den hellenischen, an die Länge
der Steinbalken gefesselten Tempelstil sehen wir die Baukunst Roms treten, welche grosse Räume für
grosse Gedanken hat und die Rechte des Geschmackes und der Decoration von der ausschliesslichen Noth-
wendigkeit, nur structive Functionen auszudrücken, befreit. Ebenso sehen wir nach dem mit dem Structur-
system seiner Kirchen und Kathedralen eng gefesselten gothischen Stil die Architektur zur Freiheit, die ihr
die Renaissance brachte, zurückkehren.
Im Allgemeinen muss leider zugegeben werden, dass die französische Renaissance
es nicht verstand oder wenig Gelegenheit fand, von der durch die Italiener errungenen
structiven Freiheit Nutzen zu ziehen. In Italien selbst wurde die Entwickelung in ihrer
schönsten Entfaltung zur Zeit Julius II. durch die politischen Schicksale des Landes
und die Richtung der Jesuitenkunst abgebrochen. Als Frankreich allmählich die
wenigstens oft geistvolle und interessante Richtung der Früh-Renaissance Franz I
aufgab, war das Unheil in Italien schon geschehen, und es folgte dann nur noch
den dort gestatteten beschränkten Anordnungen des Kirchenbaues.
Die geringeren Stockwerkshöhen der Wohnungen, das Hängen an der von der
französischen Gothik geschaffenen allgemeinen Anordnung der Kathedralen, der Um-
stand, dass so gut wie keine neuen zu errichten waren, geseilten sich hinzu, um die
 
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