Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Geymüller, Heinrich von; Geymüller, Heinrich von [Mitarb.]
Die Baukunst der Renaissance in Frankreich (Heft 2): Struktive und ästhetische Stilrichtungen, Kirchliche Baukunst — Stuttgart: Bergsträsser, 1901

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.67518#0339
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
6S7

Hierdurch allein schon befand lieh die Renaissance in Frankreich in einer viel ungünstigeren Lage
als in Italien, wo dieselbe eine Rückkehr zum nationalen Stil war oder zu sein schien. Die schöpferische,
formenerfindende Phantasie konnte keine so unmittelbare und ausgedehnte sein, die Gefühlsweise für fremde
Formen keine lo harmonische oder objectiv intensive, daher die Belebungskraft der Formen scheinbar
keine so energische, vollständige.

Mit der Renaissance war keine neue Quelle religiösen Lebens hinzugekommen.
Wäre die epochemachende Bewegung der Reformation in Frankreich statt in Deutsch-
land ausgebrochen, so hätte das Schicksal der kirchlichen Architektur der Renaissance
bei der architektonischen Begabung der Franzosen ein ganz anderes und grossartigeres

915-
Mangel einer
religiösen
Triebkrast*

werden können.

Hätte lieh ein nationaler Drang der Gewissen nach Vereinfachung und Reinigung der Formen mit
der damaligen stilistischen Nothwendigkeit der Vereinfachung verbinden können, so hätte eine mächtige
Quelle architektonischer Erfindung für die Renaissance daraus hervorgehen können.
Man wende nicht ein, dass die Triebkraft für eine Erneuerung der Formen der kirchlichen Architektur
mehr ästhetischer und intellectueller als wirklich religiöser Natur sein müsste. Warum sollte sich nicht
mit dem Begriffe grösster Vollkommenheit, den man in den antiken Formen wie verkörpert glaubte 1402),
der Gedanke verbinden, die grössere Vollkommenheit sei auch ein neues höheres Mittel, um zur Ehre
Gottes zu arbeiten !
Das Gefühl der Zusammengehörigkeit mit der römischen Kirche , die, namentlich im Neubau der
Peterskirche , zur Antike zurückkehrte, mochte selbst in Frankreich bei Einigen vielleicht diese Ansicht
stärken. Aber selbst dann ist nicht zu leugnen, dass die nationale Affinität des Temperaments mit diesen
Formen keine so grosse in Frankreich wie in Italien war. Das überwiegend lateinische Südfrankreich hat
merkwürdiger Weise an der Entwickelung der Renaissance nur eine untergeordnete, keineswegs bahn-
brechende Rolle gespielt.
Nicht nur war keine mächtige religiöse Triebfeder zu Gunsten der Renaissance vorhanden. Ein
geradezu entgegengesetzter profaner Geist hatte sich mit ihr entwickelt, auf dessen Folgen wir gelegent-
lich der Vorwürfe gegen die Renaissance zurückkommen werden.
Gerade auf die kirchliche Architektur wirkten die durch die Reformation her- 9l6’
Die Religions-
vorgerufene Krisis und die Religionskriege besonders lähmend. Sie brachen los im kriege.
Moment, wo die Reife des Stils ihre höchste Blüthe entfalten wollte.

Ein anderes Hinderniss bestand im Mangel neuer, bedeutender Kirchenbauten.
Die grossen Kathedralen waren während der gothischen Periode religiöser und
nationaler Begeisterung neugebaut worden oder zu weit gediehen, um die Entfaltung
des neuen Stils im grossen Massstabe fördern zu können.
Aus dem vorhin erwähnten ausländischen Charakter der Renaissance gingen
neue Hindernisse hervor. Das erste sehr mächtige, erklärt schon alles Andere.
Es ist das zähe Festhalten des Volkes, besonders aber der nationalen Geistlichkeit
an den Formen, welche Frankreich geschaffen und welche dieses an die Spitze
der religiösen Kunst des nichtitalienischen Abendlandes gestellt hatte. Anthyme
Saint-Paul hat das sehr richtig hervorgehoben.

917.
Mangel an
grossen
Neubauten.

918.
Widerstand
der
Geistlichkeit
im
XVI. Jahr-
hundert.

Die französische Liturgie, schreibt er gelegentlich der Kirche St.-Euftache zu Paris, zeigte sich
ungeachtet des Nachlassens der geistlichen Sitten , halsstarrig gegen Concessionen, und vielleicht hatte der
Architekt von St.-Etiftache gerade die bestimmte Absicht, seinen Zeitgenossen zu beweisen, dass die Con-
cessionen nicht unvermeidlich waren. Sehr richtig bemerkt er ferner: Der Umstand, dass opulente Geist-
liche unter den ersten Gönnern der Renaissance in Frankreich vorkommen, bedeutet nicht, dass die Gründe
für eine Renaissance, wie in Italien, oder so viel wie dort, religiöser Art seien. Die Liturgie, welche
mit solcher Entschiedenheit in Frankreich die griechisch-römischen Traditionen als unvereinbar mit den
Bequemlichkeiten des christlichen Cultus bekämpft und sich durch die Schöpfung der gothischen Structur

1402) Für Italien konnte einigermassen der Glaube an eine gleichsam überirdische Kraft, Tugend und Vollkommenheit der
antiken griechisch-römischen Denkmäler, weil sich hiermit zugleich ein grosses patriotisches Ideal verband, eine wirkliche Trieb-
kraft in dem Streben nach Vollkommenheit bilden.
 
Annotationen