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Göbel, Heinrich
Wandteppiche (III. Teil, Band 2): Die germanischen und slawischen Länder: West-, Mittel-, Ost- und Norddeutschland, England, Irland, Schweden,Norwegen, Dänemark, Russland, Polen, Litauen — Leipzig, 1934

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https://doi.org/10.11588/diglit.13168#0106

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II. Niedersachsen.

1. Halberstadt. Wolfenbüttel. Braunschweig.

a) Halberstadt.

Als späte Ausläufer alter heimischer niedersächsischer Tradition, die möglicherweise mit
einem Bildwirkereibetrieb in Halberstadt in Verbindung zu bringen ist, erscheinen zwei
Wandteppiche mit Szenen aus dem Marienleben im Halberstädter Dom (Abb. 69). Als
Material dienen Wolle und weiße Seide für die Lichter, die Textur ist mit 6—7 Kettfäden
ziemlich fein. Der dunkelrote Grund wird von nahezu kreisförmig geschwungenen Ranken
übersponnen, die bunte stilisierte spätgotische Blumen im Rankengrunde tragen. Die For-
men sind schwer in der Zeichnung, sie treten um so stärker in Erscheinung, als die ohne
Rücksicht auf das Grundmotiv aufgelegten Episoden aus dem Leben der Madonna rein
bildmäßig erfaßt sind. Der erste, technisch höher stehende Behang schildert sechs Szenen:
1. Mariä Tempelgang. Am Fuße der Treppe stehen betend Joseph (im blauen Rock und
rotem Mantel) und Anna (im dunkelgrünen Kleid und hochrotem Mantel). Die jugend-
liche Maria (in hellblauem Kleid mit gelben Sternen übersät) steigt die Stufen des Altars
hinan, an dessen Seite ein Bischof in blauer Alba und gelbem Mantel Aufstellung nimmt.
Die Inschrift auf dem Altar „(H)ONORI" erscheint in Spiegelschrift (Basselissetechnik!).
Im Vordergrunde tummeln sich drei Hasen und ein Papagei. Die Komposition ist unein-
heitlich; die Gruppe der Eltern, zweifellos unmittelbar nach einer Holzschnittvorlage ko-
piert, fügt sich wenig glücklich dem Treppenmotiv mit Maria und dem Bischof ein. Der
entwerfende, oder, richtiger gesagt, der wiederholende Künstler, geht soweit, die Vorlage
selbst bis in die kleinsten Details zu kopieren ohne jede Rücksicht auf die Eigenart der
Bildwirkerei. Die Gestalten der Anna und Josephs sind, dem Illustrationsprinzip folgend,
ganz flächenhaft erfaßt; die Plastik wird lediglich durch die für den Holzschnitt typische
Strichelung erzielt und von dem Wirker, dem die niederländische Technik der SchrafFen
fremd gewesen zu sein scheint, wiederholt. Die maßgebende Vorlage, die in manchen Ein-
zelheiten, soweit die Teppichwiedergabe ein Urteil zuläßt, auf die frühe Cranachwerkstatt
zu deuten scheint, ist mir bislang in einem erhaltenen Schnitt nicht bekannt geworden.
Jedenfalls sind die beiden Teppiche nicht vor 1500, sondern wahrscheinlich im ersten Jahr-
zehnt des 16. Säkulums entstanden.

2. Mariä Vermählung. Ein Bischof vollzieht die Einsegnung der beiden Gatten in Gegen-
wart zweier Zeugen. Im Vordergrunde hetzt ein Hund einen Hasen. Die Gruppe ist wieder-
um nach einem Schnitte mit allen für diese Technik charakteristischen Einzelheiten kopiert.
Selbständiges Gut des Wirkers ist der blumige Grund, in dem die beiden Tiere ihr Wesen
treiben. Aus grob gezahntem, teilweise geschwungenem Gras entsprießen Sternblumen, ent-
falten sich rohrkolbenarlige Gebilde. Die Auffassung ist frisch, sie erinnert in Technik und
Zeichnung an die breite, angesetzte innere Bordüre des Franken überwiesenen Teppichs mit
dem Abschied der Apostel (III, I.Abb. 236b), andererseits finden sich ähnliche Gebilde, wenn
auch nicht in so ausgeprägter Form, in den mitteldeutschen Behängen des ausgehenden
15. Jahrhunderts. Um eine handwerklich betriebene Werkstatt handelt es sich bei der Hal-
berstädter Folge des Marienlebens sicherlich nicht. In Frage kommt ein klösterliches Ate-

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