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Göbel, Heinrich
Wandteppiche (III. Teil, Band 2): Die germanischen und slawischen Länder: West-, Mittel-, Ost- und Norddeutschland, England, Irland, Schweden,Norwegen, Dänemark, Russland, Polen, Litauen — Leipzig, 1934

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https://doi.org/10.11588/diglit.13168#0252

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IL St. Petersburg.

Die Gründung der ersten und einzigen russischen Staatsmanufaktur erfolgte 1716 durch
Zar Peter den Großen. Maßgebend für das Vorgehen des Herrschers sind in erster Linie
wirtschaftlich-dynastische Erwägungen. Der Herrscher handelt nach dem Leitsatze der
großen westlichen Monarchien, die in der Errichtung neuer Manufakturen den Grundstein
zur Hebung des nationalen Wohlstandes erblicken, die das heimatliche Land frei machen
von fremder Einfuhr, den Landeskindern neue Erwerbsquellen erschließen, den Ruhm des
kunstsinnigen Herrschers in strahlender Gloriole künden, dem Repräsentationsbedürfnis
des jungen Hofes die würdige Folie verleihen. Daß Peters Wahl auf die Wirker der Gobe-
lins verfiel, ist nicht weiter verwunderlich. Der Zar war mit den Erzeugnissen der franzö-
sischen Staatsmanufaktur genau vertraut; die prächtigen Folgen, die Frankreichs Herrscher
dem russischen Gesandten, Fürsten Dolgorucky, überreichen ließ, erregten mit Recht seine
Bewunderung; die persönliche Besichtigung der Gobelins (12. Mai, 15. Juni 1717) gaben
den Plänen des Zaren nur weiteren Ansporn.

Unter dem 15. April 1716 erteilt der Intendant der Gobelins, der Herzog von Antin, die
Ausreisegenehmigung für den Architekten Alexandre-Jean-Baptiste Le Blond und die
Wirker Jean-Jacques Gauthier (Gauscher), Jean-Louis Vavocque, Pierre Grignon, Jean-
Baptiste Bourdin (Bourdein), Pierre Camousse (Camus), seinen Sohn Francois, seinen
Bruder Philippe, Arnoul Masson und Noel Ranson2). Die Verhandlungen führt als Bevoll-
mächtigter des Zaren Jacques Lefort. Als Wirker-Jahresgehalt werden 400 Rubel ausgesetzt,
die Verträge laufen auf fünf Jahre. Pierre Camousse bezieht als Atelierleiter einen Jahres-
sold in Höhe von 2000 Rubel.

Eine zweite Truppe — Philippe Behagle, als Leiter des Petersburger Ateliers mit 2500 Ru-
bel Jahresgehalt, Jean-Philippe Behagle, sein Sohn, der Wollenfärber Gabriel Renaud, sein
Sohn Jean, und der Seidenfärber Claude Meriel — erhält unter dem 17. November 1716 den
erbetenen Abschied. Als Intendant des Gesamtbetriebes fungiert Le Blond, als Oberinten-
dant Fürst Menschikoff. Die archivalischen Ausarbeitungen Spiliotis'3) weichen insofern
von den authentischen französischen Berichten ab, als an Stelle des Noel Ranson ein Lucien
(Louis) Dufosse (Dufoss6) erscheint und nicht zwei, sondern drei Behagle — Philippe, der
Vater und die Söhne Philipp und Louis — Erwähnung finden. Zweifelhaft erscheint eine
Angabe van de Grafts4), wonach auch Flamen (J. J. Hockere u. a.) in größerer Zahl die
Petersburger Kolonie verstärken.

Die Werkstätten sind in der Kalaminkowschen Manufaktur der Petersburger Vorstadt
Katarinenhof untergebracht. Der Betrieb krankt zunächst nicht unerheblich an technischen
Schwierigkeiten — Mangel an brauchbaren Wollen, an Werkzeugen — und an dem Fehlen
geeigneter Kartons. 1719 segnet Le Blond das Zeitliche, Meister Behagle war bereits kurz
nach der Ankunft in St. Petersburg verstorben. Im übrigen ist das Los der Wirker, die in
der Erwartung goldener Berge die Heimat verließen, durchaus nicht rosig. Die Besoldung
erweist sich als völlig unzureichend; die Hoffnung auf umfangreiche Arbeiten ist auf ein
Mindestmaß gesunken.

In die erste Periode der Petersburger Manufaktur (1717 bis 1719) fallen zahlreiche Por-
trätwirkereien, Bildwiedergaben (1719 „büßende Magdalena" von Grignon und Gauscher
usw. [und Stilleben], Abb. 190, 191)B). Die nach einheitlichen Gesichtspunkten zusammen-

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