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Nr. 31. HEIDELBERGER 1853.
JAHRBÜCHER DER LITERATUR.

Göthe' s vaterländische Gedanken und politisches Glaubensbekennlniss.
Frankfurt a. Μ. 1853. kl. 8. S. 158.
Unstreitig· ist keine Persönlichkeit so tief mit dem geistigen
Leben des deutschen Volkes, mit seinen literarischen und gesell-
schaftlichen Zuständen verwachsen, keine hat so grossen und nach-
haltigen Einfluss auf die Richtung und Bildung der Denkweise und
auf den Ideenkreis der deutschen Nation ausgeübt wie Göthe. Müsste
man nicht fürchten, missverstanden zu werden, so dürfte man wohl
nicht blos von einem Cultus des Göthe’schen Genius, sondern sogar
auch von einer Göthe-Religion sprechen, welche namentlich unter
den gebildeten Ständen zahlreiche Bekenner hat, in soferne man
nämlich das hierunter versteht, dass die Lebensanschauungen, die
Philosophie, die Göthe in seinen Werken niedergelegt und in der
mannigfachsten Weise, nur nicht in der Gestalt eines scholastischen
Lehrbuchs verarbeitet hat, von vielen Personen aufgenommen und
zu den ihrigen gemacht worden sind, oder dass umgekehrt Viele
ihre eigenen Gedanken und Gefühle in den Schriften Göthe’s gleich-
sam zu ihrer eigenen Beschauung dargestellt und sich dadurch der
Mühe der Formgebung für ihr eigenes Denken und Fühlen überhoben
gefunden haben. Wäre es nicht eine Wahrheit, eine Wirklichkeit,
dass Göthe das Geistes- und Gefühlsleben seiner Zeit in seinem
Geiste wie in einem Brennspiegel gesammelt und von sich dann
wieder ausgestrahll hätte, wäre nicht diese Wechselwirkung der To-
talität des deutschen Lebens und seiner Individualität thatsächlich
vorhanden, so würde weder der Zauber, den Göthe’s Persönlichkeit,
noch der, den seine Schriften über seine Mitwelt ausgeübt haben
und über die gegenwärtige Generation noch ausüben, erklärlich sein.
Aus der mächtigen Anziehungskraft, welche die Göthe’sche Denk-
und Gefühlsweise auf die Nation bisher ausgeübt hat, erklärt sich
auch das Bestreben, das Dichten und Trachten dieses Heroen der
Literatur nach allen seinen Seiten und in allen seinen Einzelheiten
kennen zu lernen, und wo möglich jeden Athemzug desselben zu
erlauschen, und jedes Wort zu erhaschen und festzuhallen, das er
im engeren und Freundeskreise über was immer für Gegenstände
gesprochen hat, um es als eine Reliquie der Nation aufzubewahren,
die ihrerseits ein Recht darauf behauptet, Alles als ein Gemeingut
zu besitzen, was von ihrem und der deutschen Musen bevorzug-
testen Lieblinge herstammt, und etwa einen neuen oder lieferen Blick
in das reiche Geistes- und Gemüthsleben ihres Dichterfürsten er-
schliessen könnte. Die Seite Göthe’s, über deren richtige Auffassung
und Würdigung bisher immer noch am meisten Meinungsverschie-
XLVI. Jahrg. 4. Doppelheft. 31
 
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