Nr. 36
HEIDELBERGER
1853.
Allgemeines Staatsrecht, geschichtlich begründet von Dr.
Bluntschli, ordentlicher Professor an der k. b. Ludwigs-Maxi-
milians-Universität. München. Verlag der literarisch-artistischen
Anstalt. 1852.
In einer Zeit tiefer politischer Abgespanntheit, wo bei so Man-
chen der Glaube an eine staatliche Fortentwicklung unseres Volks,
die Ueberzeugung von einer höheren sittlichen Natur des Staats
völlig zu Grunde gegangen ist, hat uns das vorliegende Werk des
geistvollen Bluntschli wahrhaft erfrischt. Mit steigendem Interesse
haben wir dasselbe sludirt und sind immer mehr zu der Einsicht
gekommen, dass hier eine bedeutsame geistige That vorliegt, welche
von keinem denkenden Juristen und Politiker ignorirt werden darf.
Herr Bluntschli behandelt ausschliesslich das sog. allgemeine
Staatsrecht mit Ausschliessung des deutschen Bundes- und Landes-
staatsrechts. Er unterscheidet ersteres sehr richtig von dem be-
sondcrn folgendermassen: „Das besondere Staalsrecht setzt einen
einzelnen bestimmten Staat voraus, dem es angehört. Das allgemeine
Staalsrecht dagegen beruht auf universeller Auffassung nicht eines
einzelnen sondern des Staats.“ So vollkommen wir dieser Unter-
scheidung beipflichten, so wenig können wir dem gelehrten Verfasser
in der Art beistimmen, in welcher er das Gebiet der Politik von
dem des Staatsrechts trennt. „Das Recht verhält sich zur Politik wio
die Ordnung zur Freiheit, wie die ruhige Bestimmtheit der Verhält-
nisse zu der lebendigen Bewegung in demselben. —· — Das Staats-
recht fasst vorherrschend den Staat in seinem festen normalen Dasein
als Staatskörper auf, die Politik betrachtet als Wissenschaft die Be-
weggründe und Wirkungen des staatlichen Lebens.“ Wir können
mit dieser Unterscheidung keinen klaren Begriff verbinden. Herrscht
nicht auch im Rechte die Bewegung? Ist nicht auch jedes Rechts-
institut in einer fortschreitenden oder rückwärts gehenden Bewegung
begriffen? Können wir z. B. die ganze Entwicklung des römischen
Intestaterbrechts nicht als eine allmälige' Fortbewegung vom starren
Princip der Agnation zur natürlichen Grundlage der Blutsverwandt-
schaft hin auffassen? Die Existenz einer Rechtsgeschi ch te wider-
legt in der Thal Herrn Bluntschli’s Auffassung vom Recht im Gegen-
satz zur Politik. Wo Geschichte ist, findet kein Beharren, sondern
ein fortwährendes Werden statt, also auch nicht im Rechte. Ebenso
wenig sehen wir ein, warum in dem Wesen der Politik „die unge-
zügelte Neuerungssucht liegen soll, welche ohne die Schranken des
Rechts in verderblicher Zerstörungswut untergehen würde“. In der
That gibt es denn doch ebenso häufig eine beharrende, stabile Po-
XLYI. Jahrg. 4. Doppelheft. 36
HEIDELBERGER
1853.
Allgemeines Staatsrecht, geschichtlich begründet von Dr.
Bluntschli, ordentlicher Professor an der k. b. Ludwigs-Maxi-
milians-Universität. München. Verlag der literarisch-artistischen
Anstalt. 1852.
In einer Zeit tiefer politischer Abgespanntheit, wo bei so Man-
chen der Glaube an eine staatliche Fortentwicklung unseres Volks,
die Ueberzeugung von einer höheren sittlichen Natur des Staats
völlig zu Grunde gegangen ist, hat uns das vorliegende Werk des
geistvollen Bluntschli wahrhaft erfrischt. Mit steigendem Interesse
haben wir dasselbe sludirt und sind immer mehr zu der Einsicht
gekommen, dass hier eine bedeutsame geistige That vorliegt, welche
von keinem denkenden Juristen und Politiker ignorirt werden darf.
Herr Bluntschli behandelt ausschliesslich das sog. allgemeine
Staatsrecht mit Ausschliessung des deutschen Bundes- und Landes-
staatsrechts. Er unterscheidet ersteres sehr richtig von dem be-
sondcrn folgendermassen: „Das besondere Staalsrecht setzt einen
einzelnen bestimmten Staat voraus, dem es angehört. Das allgemeine
Staalsrecht dagegen beruht auf universeller Auffassung nicht eines
einzelnen sondern des Staats.“ So vollkommen wir dieser Unter-
scheidung beipflichten, so wenig können wir dem gelehrten Verfasser
in der Art beistimmen, in welcher er das Gebiet der Politik von
dem des Staatsrechts trennt. „Das Recht verhält sich zur Politik wio
die Ordnung zur Freiheit, wie die ruhige Bestimmtheit der Verhält-
nisse zu der lebendigen Bewegung in demselben. —· — Das Staats-
recht fasst vorherrschend den Staat in seinem festen normalen Dasein
als Staatskörper auf, die Politik betrachtet als Wissenschaft die Be-
weggründe und Wirkungen des staatlichen Lebens.“ Wir können
mit dieser Unterscheidung keinen klaren Begriff verbinden. Herrscht
nicht auch im Rechte die Bewegung? Ist nicht auch jedes Rechts-
institut in einer fortschreitenden oder rückwärts gehenden Bewegung
begriffen? Können wir z. B. die ganze Entwicklung des römischen
Intestaterbrechts nicht als eine allmälige' Fortbewegung vom starren
Princip der Agnation zur natürlichen Grundlage der Blutsverwandt-
schaft hin auffassen? Die Existenz einer Rechtsgeschi ch te wider-
legt in der Thal Herrn Bluntschli’s Auffassung vom Recht im Gegen-
satz zur Politik. Wo Geschichte ist, findet kein Beharren, sondern
ein fortwährendes Werden statt, also auch nicht im Rechte. Ebenso
wenig sehen wir ein, warum in dem Wesen der Politik „die unge-
zügelte Neuerungssucht liegen soll, welche ohne die Schranken des
Rechts in verderblicher Zerstörungswut untergehen würde“. In der
That gibt es denn doch ebenso häufig eine beharrende, stabile Po-
XLYI. Jahrg. 4. Doppelheft. 36