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Kritiken.
Antonio Labriola, Essais sui’ la conception materialiste de Fhistoire,
avec une preface de G. Sorel. Paris, V. Giard et E. Briere. 1897.
348 S. (Bibliotheque socialiste internationale III.)
Der bekannte römische Universitätsprofessor Labriola, ein über-
zeugter Anhänger der sozialdemokratischen Geschichtsanschauung, giebt
in französischer Uebersetzung zwei sich ergänzende Abhandlungen wieder,
die er zuerst einzeln in italienischer Sprache veröffentlicht hat, die
Vorgeschichte des berühmten Manifestes der kommunistischen Partei
von 1848 und die inhaltliche Darstellung des in dem Manifest zuerst
ausführlicher skizzierten „historischen Materialismus“. Er will durch
diese aus den Quellen geschöpfte Darstellung den oberflächlichen und
irrigen Ansichten entgegenwirken, die in Italien und Frankreich über
die Prinzipien von Marx und Engels verbreitet sind. Bei uns in
Deutschland sind diese Prinzipien bekannt genug, und das Buch würde
für uns kaum etwas Neues bieten, wenn der Verfasser wirklich, wie
er beabsichtigt, eine ganz objektive Wiedergabe jener materialistischen
Geschichtsanschauung darböte. Aber er weicht m. E. nicht unwesent-
lich davon ab, indem er unvermerkt zufolge seiner gediegenen histo-
rischen Fachbildung dem psychischen Elemente und den individuellen
Einflüssen mehr eigene Bedeutung beimisst, als es die ausgesprochenen
Vertreter des ökonomischen Materialismus thun. Er erklärt sich sehr
scharf dagegen, die geschichtlichen Persönlichkeiten als „accident negli-
geable du mecanisme sociale“ anzusehen, sie aus der Geschichte eli-
minieren zu wollen (S. 274 f.), und bezeichnet es als Scholastizismus,
wenn man die Geschichte durch Soziologie zu ersetzen meint, anstatt
sie mit allem Einschlag der Einzelerscheinungen durch die sociologie
economique zu begreifen (S. 269); er will die histoire narrative nicht
verbannt, sondern sie nur nach den neuen Prinzipien interpretiert
wissen (S. 262 ff.). Auch erkennt er sehr einsichtig die in der
Natur der Dinge liegenden Schwierigkeiten an, die sich der ökono-
mischen Interpretation besonders auf den ideellen Gebieten entgegen-
stellen (S. 260 ff.), und warnt eindringlich vor schablonenhafter Kon-
struktion in Durchführung der neuen Methode (S. 259). Labriola
Kritiken.
Antonio Labriola, Essais sui’ la conception materialiste de Fhistoire,
avec une preface de G. Sorel. Paris, V. Giard et E. Briere. 1897.
348 S. (Bibliotheque socialiste internationale III.)
Der bekannte römische Universitätsprofessor Labriola, ein über-
zeugter Anhänger der sozialdemokratischen Geschichtsanschauung, giebt
in französischer Uebersetzung zwei sich ergänzende Abhandlungen wieder,
die er zuerst einzeln in italienischer Sprache veröffentlicht hat, die
Vorgeschichte des berühmten Manifestes der kommunistischen Partei
von 1848 und die inhaltliche Darstellung des in dem Manifest zuerst
ausführlicher skizzierten „historischen Materialismus“. Er will durch
diese aus den Quellen geschöpfte Darstellung den oberflächlichen und
irrigen Ansichten entgegenwirken, die in Italien und Frankreich über
die Prinzipien von Marx und Engels verbreitet sind. Bei uns in
Deutschland sind diese Prinzipien bekannt genug, und das Buch würde
für uns kaum etwas Neues bieten, wenn der Verfasser wirklich, wie
er beabsichtigt, eine ganz objektive Wiedergabe jener materialistischen
Geschichtsanschauung darböte. Aber er weicht m. E. nicht unwesent-
lich davon ab, indem er unvermerkt zufolge seiner gediegenen histo-
rischen Fachbildung dem psychischen Elemente und den individuellen
Einflüssen mehr eigene Bedeutung beimisst, als es die ausgesprochenen
Vertreter des ökonomischen Materialismus thun. Er erklärt sich sehr
scharf dagegen, die geschichtlichen Persönlichkeiten als „accident negli-
geable du mecanisme sociale“ anzusehen, sie aus der Geschichte eli-
minieren zu wollen (S. 274 f.), und bezeichnet es als Scholastizismus,
wenn man die Geschichte durch Soziologie zu ersetzen meint, anstatt
sie mit allem Einschlag der Einzelerscheinungen durch die sociologie
economique zu begreifen (S. 269); er will die histoire narrative nicht
verbannt, sondern sie nur nach den neuen Prinzipien interpretiert
wissen (S. 262 ff.). Auch erkennt er sehr einsichtig die in der
Natur der Dinge liegenden Schwierigkeiten an, die sich der ökono-
mischen Interpretation besonders auf den ideellen Gebieten entgegen-
stellen (S. 260 ff.), und warnt eindringlich vor schablonenhafter Kon-
struktion in Durchführung der neuen Methode (S. 259). Labriola