Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
Illustrirte Melt.

31

„Ich finde nichts, worüber der Grnndmüller hätte
fallen können, und ich sehe auch keinen Nagel."
Hinter ihm schurrte etwas auf der Erde. Als er sich
ras^ umwandte, stand das Mädchen neben einer leeren
Kiste, aus deren Rand ein mäßig großer Nagel hervor-
ragte, und sagte:
„Hier, Herr Pfarrer, hier wird es gewesen sein."
„Aber, Grete, Du hast die Kiste ja soeben selbst in
den Weg geschoben?"
„Nein, Herr Pfarrer, sie stand so, ich stieß nur mit
dem Fuße dagegen."
„So, so — hm. Und der Nagel?"
Hartmann dünkte sich in diesem Augenblick wie ein
Untersuchungsrichter.
Mit dem trübe brennenden Licht in der Hand bog er
sich über die Kiste und prüfte genau die Spitze des be-
zeichneten Nagels. Dann sagte er entschieden:
„Dieser Nagel ist nicht im stände, eine tödliche Wunde
hervorzubringen, und außerdem hätte der Grundmüller,
wenn er über die Kiste stürzte, höchstens eine Verletzung
im Unterleib, nicht aber in der Brust, davontragen können.
Auch vermag ich keine Blutspuren an dem Nagel zu ent-
decken. Grete, Grete, hier ist etwas nicht in Ordnung;
hast Du mir die volle Wahrheit gesagt, Mädchen?"
„Ich kann nicht anders aussagen, als ich gethan habe,
Herr Pfarrer," entgegnete die junge Dirne mit gefalteten
Händen, „und wenn Sie mich auf meinem Sterbelager
fragten."
Der Pfarrer murmelte etwas von gerichtlicher Sektion;
er that es so leise, daß seine Gefährtin ihn nicht verstand,
er wollte sie nicht unnötigerweise noch mehr einschüchtern.
Schließlich konnte ja auch alles so gewesen sein, wie
der Grundmüller mit eigenem Munde angegeben hatte, es
war ja keine Veranlassung zur Entstellung der Wahrheit
vorhanden, und der Zufall spielt oft in wunderbarer Weise.
So stiegen die beiden wieder aus dem düstern Keller
hinauf in die nicht minder düstere Wohnstube, und nach-
dem Hartmann noch einen Gang durch das Haus gemacht
hatte, ohne irgend einen verdächtigen Gegenstand wahrzu-
nehmen, schickte er das vor Angst und Aufregung halb
ohnmächtige Mädchen in seine Kammer und rüstete sich
zu der traurigen Totenwacht.
Anfangs saß er dicht neben dem Fenster und blickte
nachdenklich hinaus in die mondhelle Septembernacht,
durch welche noch immer ein kalter Herbstwind wehte;
dann verspürte er einen leisen Zug und bemerkte, daß die
eine Fensterscheibe zerbrochen war, eigentlich nicht zer-
brochen, sondern nach allen Seiten hin gesprungen, als
wenn jemand mit einem spitzen Gegenstand heftig dagegen
gestoßen hätte; er untersuchte jedoch die Sache nicht weiter,
sondern setzte sich tiefer in das Zimmer hinein.
Es war eine lange, traurige Nacht und der Morgen
wollte gar nicht anbrechen, aber endlich zuckten doch die
ersten roten Streifen am östlichen Himmel auf und zu-
gleich tönte von der einsamen Landstraße das schwerfällige
Nollen eines beladenen Frachtwagens.
-X-
Der Amtsrichter Stein saß am Morgen nach den ge-
schilderten Ereignissen etwas übernächtig und ermüdet auf
seinem Bureau.
Sein liebenswürdiger Schwiegervater hatte ihn schon
mit dem ersten Morgengrauen aus dem besten Schlafe
aufgerüttelt und nach einem hastig eingenommenen Früh-
stück förmlich zur Hinterthür des Hauses hinausgeschoben.
Von Anna durfte er nur in dem Hausflur flüchtigen
Abschied nehmen, sogar eine Begleitung bis an die nahe,
nach Hagenburg führende Landstraße wurde ihr untersagt.
Dagegen ging der alte Bode selbst mit und schaute
sich alle zehn Schritte argwöhnisch um.
Sie waren wie eine Schleichwache hinter dem Dorfe
herumgegangen und befanden sich nach Verlauf von etwa
zehn Minuten auf der zu dieser Zeit noch unbelebten
Landstraße.
Hier änderte sich plötzlich das Benehmen des wunder-
lichen Alten in auffallender Weise.
Er atmete freier auf, wurde herzlich und gesprächig
und legte sogar einigemale seinen Arm auf wenige Sekunden
in denjenigen des jungen Mannes.
Es war klar, daß er sich bemühte, den Eindruck seines
unfreundlichen Benehmens zu verwischen, zugleich aber
jeder hierauf bezüglichen Frage aus dem Wege zu gehen.
Endlich blieb erstehen, beschrieb den übrigens bequemen
Weg nach Hagenburg, verabschiedete sich und fügte hinzu:
„Deine Amtsgeschäfte werden Dich abhalten, lieber
Sohn, in den nächsten vierzehn Tagen den gestrigen Be-
such zu wiederholen; aber gleich nach dem ersten Oktober
soll, wie festgesetzt, die Veröffentlichung der Verlobung
stattfinden, und dann bist Du uns selbstverständlich an
jedem Tage und zu jeder Stunde herzlich willkommen."
An diese ebensoviel Zähigkeit wie Herzensgüte ver-
ratenden Worte dachte Stein, als er wenige Stunden
später in seiner Amtsstube saß und die inzwischen ein-
gegangenen Sachen öffnete.
Da fiel ihm ein ziemlich umfangreiches Paket mit dem
Stempel der Staatsanwaltschaft des benachbarten Land-
gerichts in die Hände. Er öffnete es und las:
„Akten, betreffend die Untersuchung gegen den ledigen
Klaus Merten aus Schönborn wegen verstümmelnder

Körperverletzung; Verbrechen gegen H. 224 des Reichs-
strafgesetzbuchs."
Den Akten lag ein Schreiben des Staatsanwalts bei,
in welchem es hieß:
„Bei einer kürzlich stattgehabten Revision des Zucht-
hauses zu N. fand ich Veranlassung, mit dem Direktor
und dem Geistlichen der Anstalt Rücksprache über den nun-
mehr zur Entlassung kommenden Strafgefangenen Klaus
Merten aus Schönborn zu nehmen.
„Während der Direktor dem rc. Merten das beste
Lob erteilte, schien der Geistliche eine wesentlich abweichende
Ansicht zu hegen. Derselbe vermißte bei dem Sträfling
nicht nur jede Aeußerung der Reue über seine unnatür-
liche That, sondern er glaubte auch aus gewissen, wenn
auch sehr versteckten Andeutungen des rc. Merten schließen
zu müssen, daß dieser sein Verbrechen als eine Art Sühne
für ein von seinem Vater begangenes Unrecht ansehe, daß
dieser Sühne aber noch nicht Genüge geschehen sei.
„Bei dem aus den Akten sich ergebenden heimtückischen
Charakter des Klaus Merten darf meines Erachtens diesen
Aeußerungen ein nicht zu geringes Gewicht beigemessen
werden, und es erscheint daher um so bedauerlicher, daß
das erkennende Gericht seinerzeit meinem Anträge, den rc.
Merten nach verbüßter Strafzeit unter polizeiliche Auf-
sicht zu stellen, keine Folge geleistet hat.
„Immerhin dürste eine, wenn auch unauffällige Über-
wachung des Entlassenen seitens der Behörden mindestens
für die erste Zeit recht empfehlenswert sein, und ich habe
bereits die Gendarmerie in diesem Sinne mit Weisungen
versehen, bitte jedoch außerdem Euer Wohlgeboren um
gefällige Unterstützung und füge zur näheren Information
die Akten bei."
Der Amtsrichter legte wenig erbaut das Schreiben
des Staatsanwalts aus der Hand.
Ein polizeiliches Ueberwachungssystem entsprach seinem
offenen Charakter in keiner Weise, am wenigsten liebte er
es, sich selbst in solchen Dingen an die Spitze zu stellen.
„Wer seine Strafe verbüßt hat, dem soll man in Ruhe
Zeit gönnen, ein ordentlicher Mensch zu werden, und ihn
nicht Hetzen wie ein vogelfreies Raubtier." Das war die
Ansicht des liberalen Mannes.
Dennoch konnte er sich dem kollegialen Ersuchen des
Staatsanwalts nicht wohl entziehen, obgleich dieser offen-
bar viel zu schwarz sah und gegen den unglücklichen jungen
Mann ein Vorurteil zu hegen schien.
Er las flüchtig die Akten; dieselben schienen ihm nicht
von einer besonderen Tücke und Verstocktheit Zeugnis ab-
zulegen, denn Klaus Merten hatte ohne Rückhalt bekannt
und sich der über ihn verhängten Strafe sofort unter-
worfen. Das alles konnte freilich ebenso gut als recht-
haberischer Hochmut ausgelegt werden.
Neber die eigentliche Ursache seines Streites mit dem
Vater hatte er Schweigen bewahrt, aber auch das konnte
je nachdem zu seinen Gunsten oder Ungunsten ausgelegt
werden. Stein kannte ja diese Motive nicht, aber er
hatte von Hartmann gehört, daß der Grundmüller den
Sohn der Wilddieberei geziehen haben solle — wer konnte
es letzterem dann verdenken, daß er nicht geneigt war, auf
das erwiesene Verbrechen einen neuen Verdacht zu häufen?
Auch der Grundmüller hatte in dieser Beziehung nichts
vor Gericht ausgesagt.
So grübelte der Amtsrichter hin und her, endlich
schellte er und fragte, ob Werner zur Hand sei.
Das war ein alter Gendarm, der schon viele Jahre
in Hagenburg stationirt war und den Bezirk nebst Ein-
wohnern genau kannte.
Werner war zur Hand und wurde herbeigeholt, zu-
gleich meldete der Amtsdiener, daß auch der Revierförster
Selling draußen sei und den Herrn Amtsrichter zu sprechen
wünsche.
„Selling — Selling," sagte der Richter nachdenkend,
„wo habe ich doch den Namen schon gehört? Richtig, ich
glaube, der Pfarrer von Schönborn hat ihn mir gesprächs-
weise genannt."
„Ja," meinte der Diener, „Herr Selling wohnt zwischen
hier und Schönborn, an der alten Chaussee — der Herr
Amtsrichter kennen sie wohl schon."
„Hat der Herr es eilig?"
„Er meinte, er müsse bald ins Revier auf die Holz-
schläge."
„Darin mag er zuerst eintreten."
Unter der Thür des Amtszimmers erschien ein etwa
dreißigjähriger Mann in der Uniform der königlichen
Revterförster. Er war groß, hager und muskulös gebaut;
jede seiner Bewegungen verriet Energie und Ruhe.
Beim Eintreten lehnte er eine schön gearbeitete Flinte
an die Wand, trat an den Tisch des Richters und sagte
ehrerbietig:
„Verzeihen Sie, Herr Amtsrichter, daß ich mein Ge-
wehr nicht draußen lasse, aber es gehört gewissermaßen
mit zur Sache."
„Bitte, nehmen Sie Platz, Herr Revierförster; wo-
mit kann ich dienen?"
„Ich wollte einen Einbruchsdiebstahl zur Anzeige
bringen."
Stein blickte auf.
„Da wäre freilich die königliche Staatsanwaltschaft
kompetenter."

Der Revierförster strich mit der Hand über sein
schwarzes Haar und lächelte ein wenig.
„Ganz recht, Herr Amtsrichter. Allein ich bin von
hier an die entgegengesetzte Grenze des Landes versetzt
und ziehe am ersten Oktober fort. Das sind nur noch vier-
zehn Tage. Es ist mir daran gelegen, mein Eigentum
möglichst rasch wieder zu finden, und der Instanzenweg
ist lang. Vielleicht könnten Sie doch etwas in der Sache
thun?"
„Um was handelt es sich?"
Selling stand auf und holte sein Gewehr herbei,
„Ich besitze zwei einläufige Kugelbüchsen, Herr Amts-
richter. Dieselben sind ganz gleich gearbeitet, besonders
hinsichtlich des Kalibers und der Konstruktion, nur ist die
eine insofern etwas wertvoller, als der Kolben mit Silber
ausgelegt ist, während der andern — dieser hier — jene
Verzierung fehlt. Die mit Silber eingelegte Büchse, ein
teures Andenken, ist mir gestohlen worden.
„Ich bin unverheiratet, Herr Amtsrichter" — hier flog
ein düsterer Zug über das schöne Gesicht des Erzählers —
„und lebe ganz allein in meinem Forsthause. Nicht ein-
mal Aufwartung habe ich zurzeit bei mir.
„Gestern nachmittag um fünf Uhr ging ich in den
Wald auf den Anstand; ich batte diese Büchse mit, wäh-
rend die andere dicht am Fenster meiner Wohnstube hing.
Das Forsthaus liegt unmittelbar an der sogenannten alten
Chaussee und man kann von der Landstraße aus in die
Wohnstube sehen. Ein anderes Haus ist nicht in der Nähe.
„Als ich abends ungefähr um neun Uhr heimkehrte,
war die Büchse fort.
„Am Fenster war eine Scheibe eingedrückt, und der
Dieb hat offenbar, durch die Oesfnung greifend, den
Riegel aufgewirbelt. Sonst fehlte nichts im Hause."
Stein nahm einen Bogen Papier und schrieb die An-
zeige nieder, während der Revierförster das Zimmer ge-
lassen betrachtete.
Dann fragte jener:
„War die Büchse geladen?"
„Mit einer Kugel, Herr Amtsrichter."
„Haben Sie irgend einen Verdacht?"
Selling zuckte die Achsel.
„Es ist recht mißlich, da einen bestimmten Verdacht
auszusprechen, und ich möchte um alles in der Welt keinen
Unschuldigen bezichtigen. Ein Diebstahl aus Not oder
Habsucht kann es wohl schwerlich gewesen sein, denn solch
ein Gewehr ist nicht leicht in der Umgegend zu verkaufen,
und ein vorbeiwandernder Handwerksbursche hätte mit der
Waffe wohl gerechtes Aufsehen erregt und wäre damit
nicht weit gekommen. Auch meine ich, daß ein richtiger
Dieb andere Gegenstände mitgenommen haben würde.
Derjenige, welcher das Gewehr an sich nahm, hat wohl
einen andern Zweck damit im Auge gehabt, vielleicht einen
Zweck, zu dem ihm jedes geladene Gewehr gut und
recht war."
Selling machte eine kleine Pause und betrachtete den
nachdenklich auf das Protokoll schauenden Richter mit
einem eigentümlichen Blick. (Fortsetzung folgt.)

Norwegische Lanckschaft.
Von U. Bernholt.
(Bild S. 29.)
Es ist eine merkwürdige Runzel auf dem Angesichte der
uralten Mutter Erde, dies Stück Fels von beinahe sechstausend
Quadratmeilen, gar nicht zu vergleichen mit anderen bergigen
Landstrichen unseres Globus, denen doch auch breite Fruchtebenen
angrenzen, weite Thäler eingebettet sind und lange Züge wasser-
scheidender Gebirgskämme eine scharf markirte Gliederung ver-
leihen. Nichts von alledem findet sich in Norwegen. Es ist in
der That nichts als ein einziges mächtiges Stück Fels, im Laufe
der Jahrtausende schräge gehoben, so daß er gewissermaßen eine
von Westen nach Osten sich abdachende Hochebene bildet, voll
zackiger Einschnitte an der Meeresküste und von tiefen Schluchten
durchrissen, die sich das Wasser in ewigem Falle durch den ver-
mürbenden Schiefer ausgewaschen. Stein und Wasser, das ist
der Charakter der norwegischen Landschaft und namentlich ist es
die Eigenart des ersteren, von welchem dieser bedingt wird. Die
beinahe horizontale Schichtenlage des Schiefers, seine rasche
Verwitterung sind Ursache der Formation. Keine Zinken und
Spitzen, keine Firste und Grate erblickt das Auge, nur gerundete
Hauben, gestutzte Kegel, ein breit hingelagertes Massiv, auf dem
sich der Schnee durch viele Monate hindurch aufhäuft. Aus
diesem Reservoir stürzen dann, wenn die Frühlingssonne zu
Kraft kommt, gewaltige Wassermassen mit Donnergetöse in den
Abgrund und stürmen, ihre Bette immer tiefer wühlend, dem
Meere zu. Fast über Nacht verwandelt sich das ganze Bild,
denn sobald das Weiß des Schnees an den Hängen verschwunden,
ist auch schon alles unter dem Einflüsse des warmen Malstroms
in das neue prangende Sommerkleid gehüllt. Die saftgrünen
Matten der Sennereien, das lichte Laubwerk der Birken- und Weiß-
erlenwälder erfreuen das Auge, aber dasselbe sucht fast vergebens
nach einem der lieblichen Bilder, auf denen es so gerne träumerisch
ruht. Ja, für weiches, träumerisches Sinnen ist Norwegen kein
Land. Dort ist die Natur überall ernst und großartig, zuwellen
voll schöner Erhabenheit, zuweilen auch gewaltsam bis zu be-
klemmender Wildheit Und der Mensch spiegelt in seiner Seele
die Umgebung, in der er aufwächst, wider, ein Volk verkörpert
die Eindrücke seines Landes; kein Wunder, daß auch Kunst und
Poesie dieses Volkes uns in gleicher Gestaltung entgegentreten
wie die Natur dieser nordischen Welt.
 
Annotationen