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Innendekoration: mein Heim, mein Stolz ; die gesamte Wohnungskunst in Bild und Wort — 28.1917

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Weinmayer, Konrad: Kunstwissenschaft und lebendige Kunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.10024#0206

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186

INNEN-DEKORATION

ARCH. OTTO ZOLLINGER-ZÜRICH. GESCHNITZTE MOTIVE VON NEBENST. BÜCHERSCHRANK. AUSFÜHRUNG: MARIO PETRUCC1-ZÜR1CH

KUNSTWISSENSCHAFT UND LEBENDIGE KUNST

Die Entwicklung der Kunstwissenschaft ist einer der
besten Gradmesser für das Tempo der kulturellen
Entwicklung Deutschlands vor dem Kriege. Die deutsche
Kunstwissenschaft hat aus dürftigen Anfängen in den
45 Friedensjahren die Kunst Europas aufgedeckt. Mit
dem Eifer des Neuen und der unübertrefflichen Gründ-
lichkeit des Deutschen hatte sie in kurzem ihren Apparat
ausgebaut und damit alles Neuland mit einer Objektivität
gepflügt, deren nur der Deutsche vor dem Krieg in seinem
angeborenen »Selbstmordsdrang« fähig war. Er hatte in
Italien für den Italiener, in Frankreich für den Franzosen
und in England für den Engländer geschürft und allen
die exakte Arbeit geleistet, die jenen zu mühsam gewesen.
Das Material wuchs ins Ungeheure, die Resultate über-
schlugen sich. Man schrieb in vielen Bänden das große
Buch »die Wahrheit über die Kunst des XIX. Jahrhun-
derts« und schlug damit an die Türe der lebendigen Kunst.
Man begann nach der Verankerung aller, auf kriminali-
stischem Wege gefundenen Resultate eine »Naturwissen-
schaft der Kunst«, dieses feinsten Zweiges menschlicher
Tätigkeit, zu bauen. Und die lebendige Kunst horchte
mit dem Fieber dessen, der über sich reden hört und
lechzte nach dem neuen Weg, den sie mit darüber ver-
loren. Und die Kunstwissenschaft andrerseits lockte
diese Hörigkeit ihres großen Objektes. Die Kunstwissen-
schaft regierte über die Kunst. Was die lebendige Kunst
in den letzten beiden Jahrzehnten aufzunehmen und zu
absorbieren hatte, war niemals vorher einer Kunstepoche
zur Aufgabe gemacht. Die deutsche Kunst wurde aus
dem Sattel gehoben — es ist hier unter Kunst, den Tra-
ditionen des vergangenen Jahrhunderts gemäß, vor allem
die Malerei gemeint — nicht durch die Riesenorganisa-
tion der deutschen Kunstwissenschaft allein, durch die
»amerikanische« Entwicklung der Zeit überhaupt, durch
den maschinellen Antrieb und das vollständige »Auf den
Kopf stellen« aller Verhältnisse. Man sah sich in allem
am Ende seiner Wünsche, man war übersättigt und meinte
den Himmel stürmen zu können — und bangte davor.
Und dann kam der Krieg. — Die Kunstwissenschaft hatte
der lebendigen Kunst keinen Wunsch versagt, den sie je
launenhaft gehegt. So wurde die Kunst allsehend — und
blind zugleich. In völliger Verlegenheit beteiligte sie sich
mit an dem Geflecht des internationalen Spinngewebes,

das sich, alle bisherigen Wellen von Kunst weit über-
treffend, gleichzeitig auf Europa niederließ. Die Kunst-
wissenschaft hat ihr Material weit ins Land hineinge-
tragen. Alles wartet in dieser Anarchie auf den Messias.
So liegen die Dinge heute.

Es ist ein mühsam und recht unnütz Ding, einen Rat
zu geben. Tatsachen registrieren ist all unser Können
hier. Der Krieg wird die Kunstwissenschaft auf streng
nationale Bahnen drängen. Die Internationalität hatte für
die Kunstwissenschaft stets Bedenken. Sie erweiterte
den Kreis, aber sie vertiefte seine Erkenntnis nicht. Es
gibt keine größere Objektivität als die Nationalität. Da
fühlt man verwandten Herzschlag und pflügt am besten.
Daß die Kunstwissenschaft so spät zur deutschen Kunst
kommt, hat übrigens mit den Grund, daß vor allem für
ihre beste Zeit, die Gotik, und ihre »multiplikatorische«
Art, der Apparat bislang nicht leistungsfähig genug war.
Der Krieg wird die deutsche Kunstwissenschaft eindäm-
men und die lebendige Kunst wird von dieser großen
Wandlung auch ihren eigenen Nutzen ziehen. Vielleicht
dickt sich die Luft so weit wieder ein in Deutschland,
als Kunst sie zum Leben braucht. Wissen macht nicht

Kunst....................... DR. WEINMAYER.

Die verkehrte Meinung, daß die Griechen das aufge-
stellte Ideal menschlicher Schönheit ganz empirisch,
durch Zusammenlesen einzelner schöner Teile, hier ein
Knie, dort einen Arm entblößend und merkend, aufgefun-
den hätten, hat übrigens eine ihr ganz analoge im Betreff
der Dichtkunst, nämlich die Annahme, daß z. B. Shake-
speare die unzählig mannigfaltigen, so wahren, so gehal-
tenen, so aus der Tiefe herausgearbeiteten Charaktere in
seinen Dramen, aus seiner eigenen Erfahrung im Weltleben
sich gemerkt und dann wiedergegeben hätte. Die Unmög-
lichkeit und Absurdität solcher Annahme bedarf keiner
Auseinandersetzung: es ist offenbar, daß der Genius, wie
er die Werke der bildenden Kunst nur durch eine ahnende
Anticipation des Schönen hervorbringt, so die Werke der
Dichtkunst nur durch eine eben solche Anticipation des
Charakteristischen: wenn gleich beide der Erfahrung be-
dürfen, als eines Schemas, woran allein jenes ihnen apriori
dunkel Bewußte zur vollen Deutlichkeit hervorgerufen wird
u. die Möglichkeit besonnener Darstellungnunmehr eintritt.
 
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