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Innendekoration: mein Heim, mein Stolz ; die gesamte Wohnungskunst in Bild und Wort — 28.1917

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Pütz, Friedrich: Die Überschätzung des Zeichnens: ein Beitrag zur Frage der künstlerischen Berufsberatung
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https://doi.org/10.11588/diglit.10024#0219

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INNEN-DEKORATION

199

PROF. EM. VON SEIDL—MÜNCHEN

DIELE IN EINEM LANDHAUS

mit künstlerischer Produktivität kann als Gegenpol, als
Reaktionserscheinung einer noch vor wenigen Jahrzehnten
herrschenden Vernachlässigung künstlerischer Erziehungs-
fragen angesehen werden. Erst die neu aufblühende künst-
lerische Kultur erkannte im Zeichenunterricht an den
Schulen ein bedeutsames Bildungsmittel. Da wurden all
die Zeichentalente aus ihrem Dornröschenschlaf erweckt
und durften sich in neuem Lichte sonnen. Bis man zu viel
Glanz um sie tat und die Gloriole vermeintlicher Künstler-
schaft sich hinterher nur allzuoft als trügerisch erwies.

Nur ein einsichtsvoller, von solchen Irrtümern freier
Zeichenunterricht kann diese Schädigungen für die Zu-
kunft vermeiden. Wenn durch eine allgemeine Ausbildung
der Zeichenfähigkeit jeder, wie lesen und schreiben, auch
zeichnen lernte, so würde dadurch die Überschätzung
solches Könnens von selbst verschwinden. Es würde da-
durch eine schärfere und gründlichere Anschauungsfähig-
keit geweckt, die indirekt auch den Künstlern zugute käme.

Begabungspsychologie wird reproduktive und produk-
tive Zeichentalente zu unterscheiden und ihnen demgemäß
zu raten wissen. Industrie und Werkkunst bedürfen durch-
aus auch eines fachkundigen, technischen Zeichnertums

mit reproduktiver zeichnerischer Begabung. Hier wird
es mit seinen Kräften viel nützlichere Arbeit leisten, als
wenn es sich mit künstlerischen Aufgaben abmüht, die
sein Vermögen übersteigen. Vor solch irrender Neigung
zu bewahren, wird Pflicht der Berufsberatung sein. Nei-
gungen entsprechen ja durchaus nicht immer den Anlagen.
Zumal rege, intuitive Naturen entwickeln leicht ein Stre-
ben, das fernab der Art ihrer Anlagen liegt.

Schopenhauer sagt einmal: »Der gute Wille ist in
der Moral alles, aber in der Kunst gilt allein das Können.«
Der gute Wille allein führt im schaffenden Leben zu einem
Dilettantismus, dem nicht Liebe, sondern Unvermögen
seinen Stempel aufdrückt.

Vor allem werden die künstlerischen Bildungsanstalten
mehr Gewicht auf die wesentliche Vorbedingung künst-
lerischer Tätigkeit, auf schöpferische Befähigung legen
müssen, damit nicht mehr so viel Menschenkraft an fal-
scher Stelle vertan wird und der Fluch künstlerischer
Unzulänglichkeit vielen erspart bleibt. Daß durch solche
Auslese der Kräfte unsere Werkkunst an Güte und Macht
gewinnt, wird für die Kulturarbeit in künftigen Friedens-
zeiten von wesentlicher Bedeutung sein. Friedrich pütz.
 
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