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Innendekoration: mein Heim, mein Stolz ; die gesamte Wohnungskunst in Bild und Wort — 28.1917

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Widmer, Karl: Der Schreibtisch
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https://doi.org/10.11588/diglit.10024#0260

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240

INNEN-DEKORATION

PROFESSOR EDMUND MAY—KÖNIGSBERG GARTENTERRASSE MIT MÖBELN AUS BIRKENHOLZ

DER SCHREIBTISCH

Seit etwa hundert Jahren, also noch in der klassischen
Zeit des Brief Schreibens, ist der Schreibtisch zum
eigentlichen und allgemein verbreiteten Zimmermöbel ge-
worden. Für die ältere Form der Schreibtische, wie wir
sie bis in die siebziger Jahre in jedem Wohnzimmer an-
getroffen haben, ist der hohe kastenartige Aufsatz cha-
rakteristisch, der eine Menge von kleinen Schubladen und
Fächern enthält, zum Schreiben selbst aber einen ziem-
lich knappen Raum übrig läßt. Ihrer Entstehungszeit nach
hat sich in dieser Form noch ein Stück vom Geist des
sentimentalen Zeitalters vererbt mit seiner Schreibselig-
keit, seiner Freude am Aufbewahren von allerhand An-
denken, Briefen, getrockneten Blumen, seiner Vorliebe
für zierliche, wenn auch unbequeme Möbel. Gewöhnlich
diente der Aufsatz, dessen Rand mit einer kleinen Holz-
oder Messinggalerie geziert war, auch zum Aufstellen
von Nippfiguren, Photographieständern und dergl. Im
Gegensatz zu dieser typischen Form des altmodischen
Schreibtischs, der vielfach halb Gebrauchs-, halb Zier-
möbel war und als solches häufig auch den »Salon«
schmückte, ist der moderne Schreibtisch ein reiner Ar-
beitstisch. Das Wesentliche an ihm die große, freie
Fläche zum Schreiben. Er ist nicht nur breiter, sondern
auch viel tiefer als der ältere Schreibtisch. Der Aufsatz
fällt weg, die Schubladen kommen unter den Tisch und
werden hier als bequeme, tiefe Ziehschubladen zu beiden
Seiten in zwei aufrecht stehende Kasten verteilt. Diese
dienen zugleich als Träger für den eigentlichen Tisch.

Diese Form des modernen Schreibtischs, der in seiner
massiven Breitspurigkeit und schmucklosen Sachlichkeit

zum vollendeten Ausdruck seines Zwecks geworden ist,
ist das charakteristische Hauptmöbel des heutigen Herren-
zimmers geworden. Hier gibt er, zumal wenn er frei-
steht und den Mittelpunkt einer ganzen Möbelgruppe
bildet, dem Raum sein besonderes Gepräge. Indessen
ist das Herrenzimmer nicht der einzige Wohnraum, in
dem der Schreibtisch seinen Platz beansprucht. Er ge-
hört heutzutage auch zur Einrichtung eines Damenzimmers.
Er soll auch in einem wohlausgestatteten Fremden-
zimmer nicht fehlen, und selbst im gemeinsamen Schlaf-
zimmer erscheint ein kleiner Schreibtisch angebracht,
an dem die Frau morgens nach dem Aufstehen ihre
Korrespondenz erledigen kann. Mit dieser Vielseitigkeit
seiner Bestimmung müssen aber notwendigerweise auch
die Formen des Schreibtisches wechseln. Das Riesen-
möbel eines modernen Herrenschreibtisches paßt in seiner
derben Sachlichkeit nicht auch in das Zimmer einer Dame.
Hier verlangen die feineren Hände, der kokettere Ge-
schmack etwas Leichteres, Zierlicheres. Die Bedürfnisse
einer Damenkorrespondenz beanspruchen auch nicht den
breiten Raum wie der wissenschaftliche oder geschäftliche
Arbeitsapparat eines Mannes. So hat man für die mo-
dernen Damenschreibtische wieder mehr an die Formen
der Rokoko- und Biedermeiermöbel angeknüpft. Man
gibt ihnen entweder einen kommodeartigen Bau, der, wie
der Herrenschreibtisch die Schubladen unten hat, durch
die zierlichen Füße aber etwas Leichteres, Graziöseres
bekommt; oder man verwendet wieder die alte Form mit
dem Aufsatz. Ohne Zweifel bieten diese Formen der
künstlerischen Phantasie mehr Freiheit und Anregung
 
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